Ich habe keine Queerness. Ich bin queer. Ich habe kein Autismus. Ich bin autistisch. Ich habe keine „ADHS“. Ich bin kinetisch.

CN Ableismus, Diskriminierung, Konversionstherapien, Othering, Queerfeindlichkeit, Stigmatisierung

Bitte beachtet meinen Background.

„Das ist doch nicht normal!“

In kaum einem Satz verbirgt sich eine derartig große alltägliche Machtdemonstration wie in diesem. Voller Empörung wird er all denjenigen entgegengeschleudert, die auch nur ansatzweise von irgendeiner vermeintlichen Form der „Normalität“ abweichen. Mit ihnen geht stets die Implikation einher, sich dieser entweder bedingungslos zu fügen, oder gefälligst die Konsequenzen in Form von Ablehnung, Ausgrenzung, Diskriminierung oder gar Gewalt ertragen zu müssen und selbst schuld daran zu sein.

Normativität ist ein „wir“ gegen „die“.

„Wir Normalen“ gegen „die Abnormalen“.

Erstere sind die mächtigere soziale Gruppe, die natürlich die Definitionshoheit darüber hat, was als „normal“ zählt. Hinterfragt wird dieses Weltbild meist nicht. Versuche, Abweichungen als Teil der „Normalität“ zu etablieren, erfahren hingegen meist großen Widerstand und werden als Propaganda verschrien.

Die Sache mit der „Normalität“

Im Zuge der Industrialisierung und Siegeszug des Kapitalismus kam es zur Etablierung des Konzepts der „Normalität“. Die Vermessung der Welt und möglichst allem, was sich in ihr vermessen lässt. Arbeitsplätze in Fabriken wurden zur Maximierung der Effizienz normiert – wer außerhalb der Standardabweichung liegt, hatte halt Pech. Das sollte der Profitmaximierung aber nicht im Wege stehen, der Großteil der Arbeitskräfte war ja mit minimalem Aufwand abgedeckt.

Auch im Verständnis dessen, was Gesundheit eigentlich ist, erfolgte ein weitreichender Paradigmenwechsel: Gesundheit war nun nicht mehr primär eine Frage der wie-auch-immer-gearteten Balance oder Ausgewogenheit, sondern eine Frage der Normalität. Ist der Zustand nahe genug dran an der Normalität? Gut, passt, gesund! Gibt es signifikante Abweichungen davon? Krank, gestört, kaputt! Das Ziel von Behandlungen war es nun, den Zustand wieder normal zu bekommen.

(Wer an einem Deep-Dive in dieses unfassbar interessante Thema bekommen möchte, sei [1] ans Herz gelegt!)

Dieses Prinzip ermöglichte immense Fortschritte in der Medizin und ist auf sehr vieles anwendbar. Erst die Normierung ermöglichte es, überhaupt nachvollziehbare und konsistente Kriterien für viele Krankheiten, Medikation und so weiter festzulegen. Auch in Bezug auf Behinderungen gilt dies für vieles. Wer ein Bein verloren hat, den bekommt man vielleicht selbst mit heutigen Möglichkeiten nicht mehr in den „normalen“ Zustand, aber mit Prothesen eben so nahe dran, wie es eben geht.

In Bezug auf Behinderungen folgt daraus das medizinisches Modell der Behinderung: Menschen weichen signifikant von der „Normalität“ ab und sind deswegen behindert – ergo: wir behandeln wir die Menschen so, dass sie möglichst nahe an die „Normalität“ kommen, denn das fixt das Problem.

Eine Frage, die sich jedes Mal stellt, wenn jemand von „normalen Menschen“ spricht: welche denn? Die aus dem bevölkerungsreichsten Land: Indien? Die der Weißen neurotypischen cis Deutschen im hintersten ostdeutschen Kuhkaff? (Anm.: ich komme selbst aus so einem Kuhkaff). Die der Weißen neurotypischen cis Deutschen in Berlin? Männer? Frauen? Welche Generation? Die Lebensrealitäten sind doch mitunter grundverschieden. Für viele Fragestellungen ergibt es schlicht keinen Sinn, irgendeinen Mittelwert der Gesamtbevölkerung heranzuziehen, sondern man grenzt die Gruppe eben sinnvoll ein. Auch in der Medizin ist man irgendwann auf den Trichter gekommen, dass es bspw. ganz schlau wäre, Medikamente, die man Frauen verschreibt, auch an Frauen zu testen. (Nochmal ein ganz eigenes Thema…).

Was der Gipfel der Dämlichkeit ist: irgendwie ist im Zuge all dessen das maximale Mittelmaß zum Ideal geworden, das es zu erreichen gilt. Es ist zu einer Ideologie geworden. Eine Ideologie des Durchschnitts, der Normativität.

Und was hinreichend abweicht, ist ja krankhaft, nicht? Und was krankhaft ist, sollte gar nicht erst Teil der Normalität werden, wo kommen wir denn sonst hin! (/sarcasm)

Die Auswirkungen davon sehen wir auch historisch. Eines der bekanntesten Beispiele dafür dürfte die Linkshändigkeit sein. Der Versuch, die Menschen „normal“ zu machen (aka: umzuerziehen), ist die direkte Konsequenz dieser Ideologie. Die gravierenden Auswirkungen davon sind hinreichend bekannt. Nun, Linkshändigkeit ist nach jahrzehntelangem Kampf irgendwie Teil der Normalität geworden. Auch wenn die Gesellschaft noch immer ein gutes Stück entfernt ist, da echte Gleichberechtigung zu haben, aber das ist ein anderes Thema.

Über den Umgang mit Menschen, die irgendwie von den sexuellen und cisgeschlechtlichen Normen abweichen? Da will ich gar nicht erst anfangen.

„Neurodiversity light“ und der Kampf um die Sprache

Stellt euch mal vor, jemand würde über „Menschen mit Homosexualität“ schreiben. Über „Menschen mit Queerness“.

Man will ja den Menschen zuerst sehen und von deren Störung trennen. Vor etlichen Jahrzehnten wäre so ein Ansatz völlig normal gewesen, wurde Homosexualität doch lange pathologisiert.

Heute würde es berechtigerweise einen Shitstorm sondergleichen nach sich ziehen. Und dann können sich alle auf die Schultern klopfen, weil wir doch heute so reflektiert sind und das nicht mehr zulassen, dass Menschen so behandelt werden…

…um dann im nächsten Atemzug über „Menschen mit Autismus“, „Menschen mit ADHS“, „Menschen mit Dyslexie“ zu schreiben. Oder „Menschen mit einer Neurodiversität“. Eine Diversität zum Mitnehmen, bitte. Wir wollen ja Menschen mit Diversität inkludieren und so.

Neurodiversität ist fancy, Neudodiversität ist hip, so und jetzt bitte hier lang zur Konversionstherapie. Nein, das ist kein Witz, Applied Behaviorial Analysis (ABA) folgt dem gleichen Mindset wie Konversionstherapie für Homosexualität[2] – ist jedoch seit Jahrzehnten Standardtherapie für autistische Menschen und es wird inzwischen fleißig mit Begriffen wie Neurodiversität gebullshitbingo’d.

Neurotypen, also bestimmte Formen der Neurodivergenz, welche von Geburt an bestehen, größtenteils erblich sind und Vor- und Nachteile mit sich bringen, werden noch immer durchweg pathologisiert. Verdacht und Diagnosen erfolgen pathologisch aus einem ganz bestimmten, eingeengten und ignoranten neurotypischen Blickwinkel, wodurch viele Leute durch’s Raster fallen und von Therapie zu Therapie geschickt werden, ohne zu wissen, wer sie eigentlich sind.

Weiblich gelesen? „Gut, hier hast du deine Borderline-Diagnose. Gratulation, du hast eine Persönlichkeitsstörung, deine Persönlichkeit ist gestört, jetzt geh uns nicht weiter auf den Geist.“ (Hierzu gibt es bspw. ein spannendes Kapitel in [3] – die Existenzberechtigung der Borderline-Diagnose wird dort vollständig abgelehnt.)

Double Empathy Probem? Findet keine Erwähnung. – „Du hast Probleme mit Empathie, liegt an dir.“

Interessensbasierte Aufmerksamkeit und Autistic Inertia? Monotropismus? Spontanität? – „Aufmerksamkeitsdefizit! Limitierte Interessen!“

Stimming zur Selbstregulation? – „Abnorme repetitive Bewegungen! Hyperaktivität!“

Verschieden große Support Needs in unterschiedlichen Bereichen? – „Uns interessiert nur, wie sehr du nach unseren Maßstäben FUNKTIONIERST!“

Aber hey, wir sind jetzt voll neurodivers, denn wir erkennen an, dass diese Störungen auch Stärken mit sich bringen! Spontanität, Kreativität, Hyperfokus, Gerechtigkeitssi… *(ne halt, das ist schon wieder negativ, die nerven uns damit)*.

Was sind denn das für Störungen, die größtenteils genetisch sind und nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile mit sich bringen? Wo viele der „Nachteile“ bei genauerem Hinsehen mitunter gar nicht so nachteilig sind, oder nur unter bestimmten Bedingungen? Das hat doch noch nie irgendeinen Sinn ergeben?!

Die Liste lässt sich endlos fortführen. Pathologisierung dieser Neurotypen heißt:

Du weichst ab, deine Abweichung ist das Problem – wir lösen das Problem, indem wir dich normal machen.

Voila: Konversionstherapie. Oder Verständnis von „ADHS“-Medikation als „nimm das und werde neurotypischer“. Nein, so funktioniert das nicht. Glaubt mir, ich hab in meiner Jugend viele Jahre über Medis genommen. So funktioniert das nicht. Medis sind ein Hilfsmittel, sie machen einen aber nicht neurotypischer und bringen ihrerseits Vor- und Nachteile.

Das Problem an Neurodiversity light: es werden ein paar Begriffe genommen, die angestaubten Ansichten werden in etwas wohlklingendere Worthülsen entgegen deren eigentlichen Bedeutung verpackt, irgendwie zusammengewürfelt und durch die wiederholt falschen Verwendungen irgendwann ad absurdum geführt – und die dahinterstehenden Denkmuster aber nicht hinterfragt.

Reframing

Die Problematik hinter Person-first Language wird unter [4] sehr gut erklärt.

Man kann meine Person nicht „von Queerness“ trennen. Weil ich queer bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als cis Mann wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Glaubt mir, ich hab’s aufgrund des Drucks zweieinhalb Jahrzehnte probiert. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter Queerness“, ich leide unter Queerfeindlichkeit und cishetero-Normativität.

Man kann meine Person nicht „von Autismus“ trennen. Weil ich autistisch bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als allistischer Mensch wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Glaubt mir, ich hab’s aufgrund des Drucks zweieinhalb Jahrzehnte probiert.

Ich mag meine starken Interessen. Meinen Gerechtigkeitssinn. Die Kommunikation mit anderen Autis, die gegenseitige Echolalie, das gegenseitige Infodumping. Meine Fähigkeiten zur vielfältigen Mustererkennung. Meine allabendliche Gurke. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter Autismus“, ich leide unter Ableismus und Neuronormativität.

Man kann meine Person nicht „von ADHS“ trennen. Weil ich kinetisch bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als nicht kinetischer Mensch wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Ich mag meine Spontanität, mein Inertia, meine Kreativität, die Kommunikation mit anderen kinetischen Menschen – ja, auch das gegenseitige Ins-Wort-Fallen, das man sich dann gegenseitig überhaupt nicht übel nimmt und einfach im Flow vibed. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter ADHS“, ich leide unter Ableismus und Neuronormativität.

Kinetic Cognitive Style

Moment, kinetisch? Was ist das denn? Waren wir eben nicht noch bei ADHS?

Ja und nein. ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Fällt euch nicht auf, wie komplett kaputt der Begriff selbst ist, mit dem wir uns identifizieren? Wie die Pathologie aus jeder noch so kleinen Pore trieft? Wie der Begriff suggeriert, dass man doch neurotypisch viel besser dran wäre?

Ich hab kein „Konzentrationsdefizit“ (aka Mangel/Fehlen/“zu wenig“). Ich hab im Gegenteil so viel Konzentration, sodass ich manchmal gar nicht weiß, wohin damit, weil diese Gesellschaft verlangt, auf viele Dinge gleichzeitig jeweils moderate, dafür aber stetige Konzentration zu geben.

Ich mag meine Interessensfelder. Ich krieg die Krise bei neurotypischer Kommunikation, wo Leute ewig über banale Sachen quatschen; dann endlich mal ein interessantes Thema aufkommt, was dann direkt wieder abgecuttet wird.

Ich mag Tiefgang und Intensität bei Sachen, die mein Interesse wecken. Dass das von anderen als „gestört“ und „Defizit“ bezeichnet wird, lasse ich mir nicht mehr bieten.

In autistischen Kreisen wird schon eine ganze Weile für depathologisierte Sicht gekämpft. In „ADHS“-Bubbles nimmt das Ganze bislang nur sehr zögerlich Fahrt auf, da der Begriff selbst bereits ausschließlich zutiefst pathologisch und wertend ist. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Leider hat sich bislang kein allgemein verbreiteter Alternativbegriff etabliert.

Aus diesem Grund hat Nick Walker, Autorin des herausragenden Neuroqueer Heresies[5], eine solche Alternative vorgeschlagen: Kinetic Cognitive Style, kurz KCS. KCS beschreibt viel besser, was ich seit meiner Kindheit erlebe.

Der natürliche Zustand dieses Neurotyps ist

 – eine interessens-/impuls-/inertia- und dringlichkeitsgetriebene Aufmerksamkeit

 – Flow und Hyperfokus nehmen eine zentrale Rolle ein

 – das Gehirn funktioniert am besten in Bewegung – mental und physisch, am besten alles gleichzeitig

Mehr Infos über KCS gibt es hier: [6]

Wird sich der Begriff „KCS“ durchsetzen? Keine Ahnung. Ich identifiziere mich damit jedenfalls inzwischen deutlich mehr als mit „ADHS“. Sofern niemand mit einer viel schöneren, bahnbrechenden Begriffsidee kommt, werde ich diesen erst einmal verwenden.

(Allgemeine Anmerkung zu sprachlichen Sachen: wenn man über konkrete Menschen spricht und deren sprachliche Präferenz für ihr eigenes Erleben kennt, sollte man diese respektieren. Allerdings ist es auch wichtig, die Implikationen und Alternativen zu verstehen.)

Wege nach vorn: Neuro-affirmative Ansätze

Neuro-Affirmative Ansätze sind imho die spannendste Entwicklung im Bereich der Neurodivergenz.

Neuro-affirmativ zu sein, bedeutet konsequent aufzuhören, Neurotypen als „kaputtes Neurotypisch“ anzusehen, das Gesamtbild zu betrachten und neurodivergente Kommunikation und Kultur als genau solche zu respektieren. Nicht zu versuchen, eine Person in neurotypische Normalität zu pressen und sich stattdessen auf Selbstbestimmung zu fokussieren. Es bedeutet, Menschen dabei zu helfen, mit ihrem Neurotyp zu arbeiten und nicht gegen diesen. Und es bedeutet, die tiefgreifenden Auswirkungen allgegenwärtiger Diskriminierung, Ableismus und Ausgrenzung in ihrer vollen Bandbreite anzuerkennen.

Aktuell sprießen Ressourcen dazu nur so aus dem Boden – an dieser Stelle nochmal meine Empfehlung bezüglich [3]. Auch bspw. The Psychologist, Magazin der British Psychological Society, hat dazu bereits geschrieben[7].

Ist das Ändern der Sprache die Lösung? Wie oben geschrieben: nein. Es ist notwendiger Teil der Lösung, das Ändern der Sprache allein bringt jedoch nichts, wenn alte Denkmuster nicht hinterfragt werden. Die ersten sehen schon ihre Felle davonschwimmen und versuchen, uns „neuroaffirmatve ABA“ zu verkaufen – das ist, als würde jemand „homoaffirmative Konversionstherapie“ anpreisen.

Stellt euch vor, Menschen könnten einfach ihre Neurotypen erfahren und hätten Zugang zu passenden, neuroaffirmativen Ressourcen – und zwar schon, bevor jahrzehntelanger gesellschaftlicher Druck dazu führt, dass Traits sich in pathologischen „Symptomen“ äußern. Bevor Menschen jahrzentelang immer wieder Traumata erleiden mussten, bis sie irgendwann nicht mehr können. Bevor Ausgrenzung und Mobbing dazu führen, dass Menschen niemandem mehr vertrauen. Wie viele Burnouts, wie viele Depressionen, wie viel Einsamkeit könnten verhindert werden?

Es ist Zeit für eine Revolution. ❤️‍🔥

Quellen & Literatur

[1] Robert Chapman, Empire of Normality – Neurodiversity and Capitalism, 20.11.2023

[2] Daniel E Conine, Sarah C Campau, Abigail K Petronelli, LGBTQ+ conversion therapy and applied behavior analysis: A call to action, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34407211/, 18.08.2021fAB

[3] Davida Hartman, Tara O’Donnell-Killen, Jessica K Doyle, Dr. Maeve Kavanagh, Dr. Anna Day, Dr. Juliana Azevedo, The Adult Autism Assessment Handbook – A Neurodiversity Affirmative Approach, 21.02.2023

[4] Nick Walker, Person-first language is the language of autistiphobic bigotshttps://neuroqueer.com/person-first-language-is-the-language-of-autistiphobic-bigots/, Stand: 04.10.2024

[5] Nick Walker, Neuroqueer Heresies, 01.12.2021

[6] Stimpunks, Kinetic Cognitive Style, https://stimpunks.org/glossary/kinetic-cognitive-style/, Stand: 04.10.2024

[7] The Psychologist, What does it mean to be neurodiversity affirmative?, https://www.bps.org.uk/psychologist/what-does-it-mean-be-neurodiversity-affirmative, 02.01.2024

Über persönliche Safe Persons auf mehrtägigen Events

CN Ableismus

Mehrtägige (Kink-)Events, Festivals o.Ä. sind eine tolle Sache und gleichzeitig ein Siedetopf für Menschen unterschiedlichster Backgrounds und somit ein Minenfeld der sozialen Interaktion. Insbesondere Autist:innen (und insbesondere autistische Menschen, die sich dessen selbst noch nicht bewusst sind!) stellt das vor entsprechende Herausforderungen.

Ausgangssituation

Eine der Dynamiken, die daraus entstehen können und ein Paradebeispiel für das soziale Modell der Behinderung ist, ist folgende:

Es ist wahrscheinlich, dass jemand nach anfänglicher Anxiety endlich 1-2 Leute kennenlernt, mit denen die Person sich gut versteht und diese recht schnell als Safe Persons sieht. Zu diesen kehrt der:diejenige immer wieder zurück und möchte möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen, weil mensch froh bist, jemanden gefunden zu haben. Da Socializing oftmals hohe Barrieren für Autis hat (teils Double Empathy-Mehrheitsbedingt, teils sozialisierungs-/traumabedingt, teils umgebungsbedingt), ist die Verlockung groß, recht schnell auf 1-2 Personen „einzulocken“, die man am ersten Tag kennengelernt hat. Monotropismus verstärkt dies mitunter enorm.

Solche Safe Persons können etwas sehr schönes und gerade bei Events mit größerem Gewusel extrem hilfreiches sein.

Das Problem

Eine solche Safe Person für eine andere Person zu sein, die entsprechende Support Needs hat, bzw. froh ist, sich endlich mal Menschen mitteilen zu können und eben nicht alleine auf einer Bank sitzen zu müssen (oder als letzte Person ins Team „gewählt“ zu werden x_x), kann mitunter seinerseits ziemlich Spoons veranschlagen und Menschen unter Druck setzen. Insbesondere, wenn das noch mit Trauma Dumping einhergeht, weil mensch sich endlich mal jemandem mitteilen kann.

Das resultiert dann aus Sicht der anderen Person in ein „ja also ich finde den Menschen ja eigentlich ganz nett, will aber auch nicht, dass mensch mir die ganze Zeit hinterherläuft. Ich will mensch aber auch nicht direkt wegschicken, weil ich nicht fies sein will“, was sehr anstrengend sein kann.

In einer allistischen Welt wird idR erwartet, dass mensch so was irgendwie „zwischen den Zeilen liest“ oder irgendwie „merkt“. (An dieser Stelle sei auf die Baumkletterergesellschaft verwiesen.)

Da allistische Social Cues für autistische Menschen so eine Sache sind, bekommen Autist:innen das mitunter aber gerade eben nicht mit und gehen dann Personen auf die Nerven, mit denen sie eigentlich gut klarkommen, ohne dass sie das wollen. Oft endet das darin, dass Menschen dann mitunter versuchen, möglichst unauffällig auszuweichen, heimlich hoffen, der Person gerade mal für 1-2 Stunden nicht über den Weg zu laufen oÄ. Falls überhaupt, erfährt die betroffene Person das dann oft auf recht unschöne Art und Weise, was dann Selbstbewusstsein noch weiter untergräbt.

Lösungsstrategien

Ich habe diese Dynamik auf eigentlich allen Seiten bereits erlebt (wenn auch in unterschiedlichen Intensitäten) – als Social-Cues-nicht-verstehende-Person, als Safe Person für jemand anderes, als Person in einer Gruppe mit einer anderen Person, die irgendwie von jemandem als Safe Person auserkoren wurde. Es gibt leider keine magische Wunderlösung, die man einfach anwenden kann, um das zu vermeiden. Ein paar Gedanken dazu hätte ich dennoch. Das Wichtigste ist eigentlich, diese Dynamik auf dem Schirm zu haben.

Als (unfreiwillige) Safe Person:

  • „Aber der Mensch muss das doch eigentlich mal merken!“ – Nein. Merkt mensch mitunter eben nicht. Vor allem nicht nach mehreren Tagen Event, wo Maskingenergie kaum noch vorhanden ist und allistische Social Cues noch häufiger übersehen werden als sonst.
  • Bitte blamed andere nicht dafür, das „nicht zu merken“, auch nicht hinter deren Rücken. Das passiert dann leider häufig, wird die Social Anxiety für die Person aber nur noch weiter vergrößern. Dazu kommt noch, dass betroffene Menschen bereits sehr viel Erfahrung mit Othering machen mussten. Das ist ein elendiger Teufelskreis.
  • Es ist absolut ok und sinnvoll, Grenzen zu setzen und zu kommunizieren, dass man für bestimmte Dinge bzw. deren Intensität keine Spoons hat. Das ist imho deutlich besser und fairer, als mit der Situation unglücklich zu sein oder hintenrum über betroffene Personen zu lästern.
  • Es muss einerseits klar kommuniziert werden – „zwischen den Zeilen“ funktioniert nicht! – andererseits ist dennoch etwas Fingerspitzengefühl angebracht. Das kann in der Situation scary sein, wenn man nicht „zu hart“ sein oder missverstanden werden will – auf der anderen Seite mag ein „du gehst mir auf den Sack“ zwar direkt und unmissverständlich sein, ist aber einfach nur wahnsinnig unempathisch.
  • Bedenkt, dass die andere Person die andere Person dieses Eierschalenlauf-Problem bei sehr vielen sozialen Interaktionen hat, weil sie meist sehr oft im Leben angeeckt ist und missverstanden wurde (deswegen kommt mensch ja auch erst in die Situation).
  • Beachtet dennoch, dass einige autistische Menschen massive Social Anxiety entwickelt haben, weil ihnen permanent gesagt wurde, dass sie „zu viel“ sind. Wenn diese sich euch öffnen, tun sie das nicht, weil sie euch auf die Nerven gehen wollen, sondern weil sie euch eben als safe ansehen. Es ist nicht immer einfach, da eine Balance zu finden.
  • Leider ist das mit dem direkten Mitteilen umso schwieriger, wenn eins selbst zu den People Pleasern gehört. Hier können gegebenenfalls Personen im Umfeld helfen, die diese Situation mitbekommen.
  • Ggf. können in solchen Situationen beispielsweise Techniken der Gewaltfreien Kommunikation sehr hilfreich sein.

Als Person auf der anderen Seite

  • Versucht, sofern es euch möglich ist, nicht in obige Falle zu tappen, nach dem ersten Tag komplett auf 1-2 Leute „einzulocken“. Ja, das bedeutet leider Socializing, I know. Auch da gibt es kein Wundermittel und das Thema ist eigene Writings wert.
  • Bitte vermeidet permanentes unsolicited Traumadumping. Es kann sehr befreiend sein, endlich mit einer Person reden zu können. Über mehrere Tage hinweg sind bestimmte Themen aber für die andere Seite wirklich sehr anstrengend, vor allem wenn diese mit starken negativen Emotionen verknüpft sind. Das kann unglaublich schnell die eigenen Batterien leersaugen, die eins eigentlich auf dem Event selbst aufladen wollte. Das heißt nicht, dass ihr verschlossen bleiben solltet. Die Dosis macht das Gift.
  • Je nach Event kann es sich beispielsweise stattdessen anbieten, gezielt einen Gesprächskreis mit Menschen zu starten, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Erfahrungsgemäß sind in queeren Kink-Bubbles meist definitiv genug Interessent:innen da! Und ganz nebenbei lernt ihr da neue Personen kennen.
  • Wie oben beschrieben, kann es gut sein, dass euch immer wieder gesagt wurde, dass ihr „zu viel“ seid und ihr deswegen Angst habt, überhaupt an Personen heranzutreten oder euch diesen zu öffnen. Das ist keine gute Lösung. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Auch hier gilt: Die Dosis macht das Gift.
  • Im Zweifelsfall: sprecht es an. Letztlich ist das dann auch nur ein Konsensgespräch. Ihr werdet manchmal positiv überrascht sein!
  • Leider sind die Hürden in unserem Gesundheitssystem mitunter sehr hoch, für autistische Menschen (ob sie selbst wissen, dass sie autistisch sind oder nicht…) hat das ohnehin schon cursed System nochmal ganz eigene Barrieren. Dennoch ist ein Kink-Event vielleicht nicht der richtige Ort, um große Traumata erstmalig anzugehen und entsprechende Grundlagenaufarbeitung zu leisten. Wenn ihr den Verdacht hegt, eventuell autistisch und/oder kinetisch („ADHS“) zu sein, lohnt es sich extrem, sich mit entsprechenden Ressourcen auseinanderzusetzen, da diese Neurotypen mitunter ganz andere Herangehensweisen benötigen und das Wissen von Menschen im Gesundheitsweisen in dieser Hinsicht oft gnadenlos überschätzt wird. Vertraut dabei nicht den ersten Google-Suchergebnissen, sondern konsultiert Ressourcen von Betroffenen für Betroffene.

AuDHS & Neuroqueer Theory Ressourcensammlung

Stand: 03.09.2024

CN: Infodump

Bitte beachtet meinen Background als Vorab-Hinweis/Disclaimer zu den Ressourcen.

Allgemeine Anmerkungen und Empfehlungen zu Ressourcen

Die meisten aktuellen und guten Ressourcen zum Neurodiversitäts-Paradigma und ADHS/Autismus sind leider auf Englisch.

Vieles, was man bei der ersten Google-Suche findet, ist veraltet, rein aus der Sicht von unreflektierten Neurotypischen (oder zumindest Allistischen) geschrieben und spiegelt oft nicht das wieder, was Betroffene erleben, insbesondere unter großem Masking.

Meidet wenn möglich Ressourcen, die nicht von Betroffenen selbst stammen. Vor allem viele Ressourcen und Organisationen der Marke „von nichtbetroffenen Verwandten für nichtbetroffene Verwandte“ sind fürchterlich. Das prominenteste Beispiel dafür ist die Organisation „Autism Speaks“ – rennt! Von dieser kommt auch das Puzzle-Symbol – wenn das irgendwo auftaucht bzw. als Symbolik von hiesigen Organisationen übernommen wird, sehe ich das inzwischen zumindest als Yellow Flag.

Es wird sehr viel grober Unfug in Bezug auf die Neurodiversitätsbewegung propagiert. Aussagen a la „die sprechen Menschen die Behinderung ab und verharmlosen alles einfach nur als Unterschied“ sind kompletter Unsinn und werden vor allem von Leuten weitererzählt, die sich damit nicht wirklich auseinandergesetzt haben. Ich halte einen Paradigmenwechsel für alternativlos. ADHS/Autismus-Traits können inherente Behinderungen sein. Autismus/ADHS pauschal als Störungen/Krankheiten zu framen – und somit zu implizieren, dass es sinnvoll wäre, uns alle zu „heilen“, führt hingegen zur Leugnung von Lebensrealitäten, Absprechen von Identitäten, Nichtreflektieren der Rolle von Neurotypischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen – und missbräuchlichen Konversionstherapien wie etwa Applied Behavorial Analysis (ABA), die noch immer Gang und Gäbe sind und literally denselben Ursprung haben wie Konversionstherapien für Homosexualität.

Es handelt sich um Neurotypen mit Vor- und Nachteilen im Vergleich mit anderen Neurotypen.


Welche zu großen Teilen erbliche, von Geburt an existierende „Krankeit“/“Störung“ bringt denn bitte auch viele positive Traits mit sich? Das hat doch noch nie irgendwo irgendeinen Sinn ergeben. Wir leben in einer Welt, in der Menschen etwas wie „starkes Gerechtigkeitsempfinden“ pathologisieren, das ist doch ein einziger Clusterfuck. Dinge, die dieser Denkweise entspringen, inklusive Therapie etc., werden niemals die Grenzen dieser Denkweise überwinden und einen immer in diesem Käfig lassen. Das ist, als würde man auf Teufel komm raus versuchen, das Universum zu verstehen, während man noch dem geozentrischen Weltbild anhängt.

Wir sind in dieser Gesellschaft behindert – es ist wichtig, diesen Unterschied zu verstehen und zu betonen.

Eingehend damit: viele Quellen verbreiten die altbekannte pauschale Pathologie in kaum veränderter Form unter dem Deckmäntelchen der Begrifflichkeiten des Neurodiversitäts-Paradigmas. Wir sollten lernen, das zu durchschauen, zu hinterfragen und aktiv herauszufordern.

Cut through the noise.

Ressourcen

(Grundlagen) Begriffe rund um Neurodiversität:

Neurodiversity: Some basic Terms & Definitions von Dr. Nick Walker,
https://neuroqueer.com/neurodiversity-terms-and-definitions

(oder: „wo liegt der Unterschied zwischen neurodivers und neurodivergent“?)

Unmasking Autism von Dr. Devon Price

Unbedingte Empfehlung, falls ihr auch nur den Hauch einer Vermutung habt, dass „ADHS irgendwie noch nicht alles ist“.

Ergänzung:
Es gibt Pattern, bei denen ich inzwischen immer hellhöriger werde. Klassiker ist es, wenn Leute Diagnosemarathons hinter sich haben (irgendwas mit PTSD, Borderline, Depressionen, sehen sich als hochsensibel, von einer Therapie zur nächsten, aber irgendwie passt alles noch nicht so 100% und sie sind seit Jahren noch immer auf der Suche, oft weiblich sozialisiert) – und dann kommt noch irgendwie ein ADHS-Verdacht dazu, dann ist das Masked Autism-Bingo komplett.

Das Buch zielt, wie der Titel vermuten lässt, hauptsächlich auf high masking Autist:innen. Für diese Gruppen eine unbedingt Empfehlung als Einstiegslektüre!

Für bspw. nicht sprechende Autist:innen hingegen gibt’s vermutlich bessere Ressourcen. Diese sind nicht primäre Zielgruppe des Buches und könnten sich ggf. dadurch nicht gut repräsentiert fühlen. Das Buch ist nicht perfekt, bspw. wird der Begriff neurodivers gerne auch mal für Einzelpersonen verwendet.

Neuroqueer Heresies von Dr. Nick Walker

Ganz viel zum sozialen Modell der Behinderung und dessen Implikationen. Für mich persönlich Life Changing. Eine der wichtigsten Quellen, wenn nicht gar das wichtigste Buch, das ich jemals gelesen habe. Ich habe noch nie so viel bei einem Buch weinen müssen.

Bitte lest dieses Buch, wenn ihr irgendwie neurodivergent seid oder mit neurodivergenten Menschen zu tun habt!

Die meisten der Writings (aber nicht alle) findet man auch auf https://neuroqueer.com – ich empfehle dennoch das Buch für den zusätzlichen Kontext.

Ein Writing habe ich oben bereits bezüglich der Definitionen verlinkt. Ich empfehle stark, mindestens noch ein weiteres zu lesen:
Throw away the Master’s Tools – Liberating ourselves from the pathology paradigm, https://neuroqueer.com/throw-away-the-masters-tools/

Nick Walker hat auch die Neuroqueer Theory hervorgebracht (siehe unten).

Monotropismus

Monotropismus ist eine in der autistischen Community sehr populäre Theorie, wie autistische Aufmerksamkeit funktioniert:
https://monotropism.org/
(klickt nicht auf die dt. Übersetzung, die ist maschinell erstellt und qualitativ schlecht)

ADHD and Monotropism
https://monotropism.org/adhd/

Monotropism Questionnaire
https://dlcincluded.github.io/MQ/

Video dazu von I’m Autistic, Now What?
https://www.youtube.com/watch?v=3mBbOOzhoGQ

Kinetic Cognitive Style (KCS)

KCS ist ein potentielles Reframing für ADHS. Imho resoniert dieser Begriff deutlich mehr damit, wie ich meine kinetische Seite erlebe, als es der in sich bereits rein pathologische Begriff „ADHS“ tut.
https://stimpunks.org/2021/08/27/kinetic-cognitive-style/

Neuroqueer Theory

Es gibt, neben anderen Dingen, größere Overlaps zwischen (Gender-)Queerness und Neurodivergenz. Das liegt unter anderem daran, dass viele der ungeschriebenen geschlechtsspezifischen Normen von Neurotypischen für viele von uns schlicht keinen Sinn ergeben.

Neuroqueer Theory ist eine Anwendung der intersektionalen Queer Theory und dem Neurodiversitäts-Paradigma. Das Verb neuroqueeren bedeutet, sowohl die cis-hetero-Normativität, als auch die Neuro-Normativität herauszufordern und sich davon zu befreien.

Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass Neuroqueer Theory in den nächsten Jahren vermutlich so einigen Fortschritt machen wird.

Neuroqueer Theory: An Introduction
https://neuroqueer.com/neuroqueer-an-introduction/

Toward a Neuroqueer Future
https://neuroqueer.com/wp-content/uploads/2021/07/Walker-2021-Toward-a-neuroqueer-future.pdf

Wikipedia-Eintrag zu Neuroqueer Theory
https://en.wikipedia.org/wiki/Neuroqueer_theory

Beziehungen, Sexualleben und Kink

Neurodivergenz beeinflusst das komplette Leben und kann somit unweigerlich auch einen weitreichenden Einfluss auf das Sexual- und Beziehungsleben haben. Nicht-„traditionelle“ Beziehungsformen, Polyamorie, Kinks. Leider sind das meist Tabuthemen. Das taucht in kaum einem Ratgeber auf und nur wenige, die mit Neurodivergenten arbeiten, haben das überhaupt auf dem Schirm. Da diese eklatant klaffende Lücke ein himmelschreiendes Loch im breiteren Wissen über Neurodivergenz ist, möchte ich das an dieser Stelle zumindest erwähnen – das Thema ist jedoch zu groß für einen Rundumschlag an dieser Stelle.

Dennoch möchte ich hier einen Shoutout machen:

SMJG

SMJG e.V. als gemeinnütziger Verein, der im deutschsprachigen Raum Jugendarbeit (d.h von 14. bis 27 Jahren) im Bereich BDSM und Sexualaufklärung betreibt. Derlei Vorlieben sind sich junge Menschen oftmals bereits in sehr jungen Jahren bewusst, fühlen sich aber meist falsch und unnormal und haben keine Ansprechpartner:innen, was zu weiterem Masking auch im Bereich Sexualität und Beziehungen führt. In der Schule, der Familie etc. wird dies nicht besprochen. Die SMJG bietet jungen Menschen einen geschützten Raum, um sich mit Gleichaltrigen über diese Themen auszutauschen. Es gibt in den meisten größeren Städten regelmäßige Stammtische, ein moderiertes Forum, einen moderierten Chat, ein Sorgentelefon, mehrmals jährlich Communitytreffs undundund. Ich habe selbst bereits einen ADHS-Gesprächskreise im Zuge eines Communitytreffs organisiert.

Es treiben sich dort so einige neurodivergente Menschen rum, auch wenn der Schwerpunkt nicht auf Neurodivergenz liegt. Der Verein ist zudem von jungen Menschen für junge Menschen selbst organisiert. (Heißt auch: Sensibilität für Neurodivergenz, Trauma etc. ist definitiv höher als im Bevölkerungsschnitt, aber natürlich auch von den Menschen abhängig!)

Ich habe der SMJG sehr viel zu verdanken und leider viel zu spät entdeckt.

Für Erwachsene gibt es den SMJG Alumni, der alterstechnisch nach oben offen ist. Man muss nicht in der SMJG aktiv gewesen sein.

Weitere Online-Ressourcen

Stimpunks
https://stimpunks.org/
Eine Schatzgrube an Informationen

Facts, Fire, and Feels: Research-Storytelling from the Edges
https://stimpunks.org/research
Über Reframing in der Forschung gegen einen kaputten Status Quo

Social Media Ressourcen

I’m Autistic, Now What?
https://www.youtube.com/@imautisticnowwhat
Super sympathischer Youtube-Channel rund um Autismus / AuDHS

Autistic AF
https://www.youtube.com/@Autistic_AF
AuDHS Content 🙂

Interessantes Gedankenspiel, was herauskommt, wenn man „neurotypisch“ genauso als Störung framed, wie es bei Autismus/ADHS getan wird
https://www.youtube.com/watch?v=nf0OVpfUbgc

Diverse Animationsvideos des Youtube-Kanals illymation, bspw. Times I should have realized I was autistic
https://www.youtube.com/watch?v=i3Vy2BPmMS4

Avoiding Toxic Productivity Advice for ADHD von ADHD Jesse
https://www.youtube.com/watch?v=JsT3KPYJFl4

The Neurodivergent Collective
https://www.instagram.com/the.neurodivergentcollective/


Eigenwerbung

Von Baumkletterern und Fischen (oder: warum ein konsequentes Neurodiversitätsparadigma die Probleme neurodivergenter Menschen nicht verharmlost)

– Your flamingly Autistic, neuroqueer rainbow butterfly cat Luux 🔥

Von Baumkletterern und Fischen (oder: warum ein konsequentes Neurodiversitäts-Paradigma die Probleme neurodivergenter Menschen nicht verharmlost)

If you judge a fish by its ability to climb a tree, it will live its whole life believing that it is stupid

Derlei Zitate sind zwar auf Social Media-Bildchen sehr populär und werden oft geteilt (zumeist in einer Kombination, die deren Ursprung fälschlicherweise Albert Einstein oder anderen berühmten Menschen der Vergangenheit zuweist), die Gesellschaft selbst konfrontiert die Menschen aber leider zumeist mit einer vollkommen anderen Realität.

Dennoch erkenne ich in diesem Satz eine Schönheit, welche mit mir in einer Art resoniert, die mich immerhin dazu inspiriert, eine kleine Geschichte zu schreiben.

Eine Geschichte über Baumkletterer und Fische.

CN: Ableismus

Bitte beachtet meinen Background.


Die Gesellschaft der Baumkletterer

Die Geschichte spielt in einer Welt, die von Baumkletterern bevölkert wird.
Es gibt große Baumkletterer, kleine Baumkletterer, dünne Baumkletterer, dicke Baumkletterer, flinke Klettermeister, langsamere Kletterer, Kletterer mit kaputten Knochen, gerade erst Kletternlernende und so weiter und so fort.

Jene Baumkletterer – man könnte es fast erahnen – errichten ihre Städte auf Baumkronen. Nun müssen Baumkletterer ab und zu von den Bäumen herunter oder zwischen den Baum wechseln – schließlich kann man nicht die ganze Zeit auf demselben Baum hocken. Auf Bäume hinauf oder zwischen den Bäumen hin- und herzuklettern ist demnach in der Baumkletterergesellschaft vollkommen alltäglich und normal. Die sozialen Gepflogenheiten, Normen und Umgangsformen sind aus unserer Sicht am ehesten mit denen von Rudeln vergleichbar. Jedes Baumklettererkind weiß das und lernt diesen Umgang miteinander intuitiv.

Nun besteht die Welt zwar hauptsächlich, aber nicht ausschließlich aus Baumkletterern. Es gibt noch andere Wesen, zum Beispiel die Fische. Gut, eigentlich ist es eher ein breites Spektrum aus Amphibien-artigen Wesen bis hin zu reinen Fischen. Ein fließender Übergang. Aber der Einfachheit halber werden sie zumeist Fische genannt.

Fischheitsstörung

Woran erkennt man einen Fisch?

Nun, es ist gar nicht so einfach, wie es sich zunächst anhört. Man sieht es den Fischen nämlich gar nicht äußerlich an. Es ist auch noch gar nicht so lange her, dass man überhaupt erst erkannt hat, dass es Fische gibt. Man machte diese Entdeckung, indem diejenigen untersucht wurden, die sich sehr eigenartig und ungeschickt beim Klettern anstellten. Seitdem weiß man, dass es Klettergestörte gibt, die sich bestimmte Merkmale teilen. Diese Merkmale haben die Baumkletterer unter Fischheitsstörung zusammengefasst.

Kletterer mit Fischheitsstörung haben es nicht leicht in einer Welt, in der die Städte auf Baumkronen errichtet werden und Klettern alltäglich ist. Immerhin gibt für diese Störung inzwischen einige Nachteilsausgleiche, beispielsweise wird Betroffenen gnädigerweise mehr Zeit beim Bäumewechseln eingeräumt. Notwendig hierfür ist jedoch zunächst eine fachliche Fischheitsstörungsdiagnose, bei der diese Schwierigkeiten anhand sachlicher, von führenden Baumklettererärzten erstellten Kriterien, festgestellt werden.

Diese Kriterien umfassen unter anderem:

  • Probleme beim Baumklettern, bspw. auffällig ungeschicktes Kletterverhalten, sehr langsames Klettern
  • erhöhtes Verletzungsrisiko beim Klettern (Anm.: eine Versicherung abzuschließen ist mit Fischheitsdiagnose entsprechend schwieriger!)
  • übermäßiges Interesse an Wasser (hierfür werden mitunter wichtigere Dinge vernachlässigt)
  • soziale Probleme und Auffälligkeiten, Stören des Rudelverhaltens
  • Probleme beim Erlernen der Rudeldynamiken im Kindesalter
  • fehlende Rudelintuition

In den letzten Jahren hat sich das Verständnis für die Fischheitsstörung weiterentwickelt. Langsam kommen die Baumklettererärzte dahinter, dass es nicht nur reine Fische gibt, sondern – wie eingangs erwähnt – ein breites Spektrum von Baumkletterer-Fisch-Hybriden, Amphibien, reinen Fischen und so weiter.

Sehr viele davon wissen ein Leben lang nicht, dass sie Fische sind.

Meist sind es solche, die halbwegs kletterfähig sind. Sie glauben, sie sind einfach ein wenig holprige und ungeschickte Baumkletterer. Oft sind sie als einzige im Rudel sehr erschöpft von der Kletterei. Auch werden sie oft ausgegrenzt, da sie sich zwar bemühen, das Rudelverhalten zu verstehen, aber auf ihre Mitkletterer wirken sie dennoch unterbewusst… irgendwie fishy.

Dass sie Fische sind, erfahren sie häufig erst, nachdem sie bei einem Kletterversuch durch Unachtsamkeit im chronisch erschöpften Zustand einen Unfall erlitten und mehrere Monate arbeitsunfähig waren. Oder ihre Kinder bekommen die Diagnose Fischheitsstörung, sie denken sich „meine Kinder sind doch ganz normal, die sind doch genau wie i… oh. Oh.“

Der Kampf um Anerkennung

Einige Fische fordern die Baumkletterer vermehrt dazu auf, sie als Fische anzuerkennen und die Fischheitsstörung nicht mehr als Störung zu bezeichnen.

Sie haben erkannt, dass sie sich im Wasser hervorragend fortbewegen können und – wenn mehrere Fische zusammenkommen – ein intuitives Schwarmverständnis besitzen. Sie haben erkannt, dass, würden die Städte nicht auf Baumkronen erbaut sein, ihnen vieles einfacher fallen und ihr Schwarmwissen einen massiven Beitrag zur Gesellschaft leisten könnte. Sie haben erkannt, dass sie kein prinzipielles Kletterproblem haben – auch noch so steile Wasserfälle stellen keinerlei Problem für sie dar!

Auch Fische können kaputte Flossen haben – dann fällt es ihnen zusätzlich dazu noch schwerer, sich im Wasser fortzubewegen. Von Kletterversuchen ganz zu schweigen. Viele verletzen sich irgendwann beim Versuch, die Baumkrone zu erklimmen oder sind chronisch erschöpft von der ganzen Kletterei, für die sie einfach nicht gemacht sind.

Und es gibt große Fische, kleine Fische, langsame Fische, schnelle Fische, bunte Fische, einfarbige Fische, glitzernde Fische, leuchtende Fische – alle mit eigenen Herausforderungen im Leben.

Kennst du einen Fisch, kennst du einen Fisch.

Sie haben erkannt, dass sie keine Kletterer mit Fischheitsstörung, sondern Fische sind. Würde man etwa von den Baumkronen Wasserfälle errichten, könnten vielleicht nicht alle, aber sehr viele Fische viel leichter…

Hahahaha, nope. So läuft das nicht.

Ignoranz

Viele Baumkletterer sind dagegen. Sie verstehen nicht, warum sie Zeit, Mühe und Ressourcen in die Errichtung von Wasserfällen, Wasserstraßen oder Teichen stecken sollten. Immerhin gibt es auch langsame Baumkletterer. Jeder hat mal einen schlechten Tag und verletzt sich beim Klettern. Und wenn an sich nur genug anstrengt, kann man seine Kletterfertigkeiten verbessern! Stattdessen wird Fischheit oft als Ausrede benutzt! Und Fische sind ja nur eine kleine Minderheit! Außerdem behauptet ja heutzutage jede:r dritte, ein Fisch zu sein! Ein regelrechter Fischheitstrend!

Einige behaupten gar, es gäbe keine Fische oder Fischheitsstörung. Man müsse nur endlich wieder strenger beim Klettern sein. So wie früher. Früher, in der glorreichen Vergangenheit! Früher hat es schließlich auch keine Fische gegeben!

Auch unter denen, die nicht leugnen, dass es Fische gibt, stehen viele den Anerkennungsbewegungen sehr skeptisch gegenüber, darunter vor allem auch Angehörige von Fischen, aber auch einige Fische selbst.

Fischheit soll keine Störung sein?
Damit spricht man doch Betroffenen ihre Kletterprobleme ab!!!!

Man soll sie als Fische bezeichnen und nicht als Kletterer mit Fischheitsstörung?
Aber ein Wesen wird doch nicht durch seine Fischheitsstörung definiert, das muss man doch sprachlich klar machen und vom Individuum trennen!!!! (Diese Fischheit hat mein Kind weggenommen und es zu etwas anderem gemacht!! pls macht mein Kind wieder normal und holt mein wahres Kind unter dieser Fischheit hervor!!!)

Fische selbst kämpfen dafür?
Wie können sie es wagen??!! Das sind doch nur Amphibien-Fisch-Mischwesen, die an Land gehen können und wunderbar im Leben zurechtkommen!! Die sind gar nicht Fisch genug, um für die echten Fische sprechen zu dürfen!! (Aber ich als nichtbetroffene:r Angehörige:r eines Baumkletterers mit echter Fishheit bin es selbstverständlich!!)

Fische realisieren selbst, dass sie Fische sind, nachdem sie sich ausführlich zu Fischen informiert und mit vielen anderen Fischen in Kontakt getreten sind?
NEINEINEIN, man muss eine richtige Fischheitsdiagnose von vertrauenswürdigen Baumklettererexpert:innen einholen! Sonst nimmt man den wahren Fischen die Fischheit weg!! Schau, Expert:innen sind so wichtig, dass sie sich auf den Spitzen gewaltiger, pompöser und extrahoher Baumkronen befinden! Aber es sollte doch machbar sein, da hochzuklettern, wenn es euch wichtig ist, oder?? Sonst seid ihr offensichtlich keine wahren Fische!

Was es heißt, ein Fisch zu sein

Ein Fisch zu sein, schafft viele Alltagsprobleme, die Baumkletterer nicht haben. Nun haben sie es aber nicht schwer, weil sie inherent „kaputt“ sind, sondern weil es sich eben um Fische handelt. Es sind einfach Fische, die nicht für das Bäumeklettern im Rudel gemacht sind, sondern für das Schwimmen im Schwarm. Im Wasser entfalten sie ihr Potential.

Sie haben keine Krankheit. Ein Fisch zu sein ist nichts, das man „heilen“ oder umerziehen könnte. Aber in dieser Gesellschaft sind alle Fische behindert.

Würde die Gesellschaft hauptsächlich aus Fischen bestehen, hätten diese ihre Städte auf dem Wasser errichtet und man würde sich wundern, warum die Baumkletterer eine Schwimmstörung haben und mitunter kaum ihr Seepferdchen bestehen.

Nun, einige Fische sind so stark auf das Wasser angewiesen, dass sie dieses überhaupt nicht selbstständig verlassen können. Selbst auf der Wasseroberfläche errichtete Städte sind für sie ohne weitreichende Unterstützung unerreichbar. Aber es wäre auch für sie und ihr Umfeld mitunter deutlich einfacher, als immerzu die hohen Baumkronen erklimmen zu müssen.

Fischsein selbst ist in den allermeisten Fällen keine inherente Störung, aber in dieser Gesellschaft sind alle Fische behindert.

Vielleicht erkennen das irgendwann auch die Baumkletterer…


Was will uns Luux damit sagen?

Dey will uns zum Nachdenken anregen!

Neurodiversität spricht niemandem die Probleme ab, die damit einhergehen, neurodivergent zu sein. Man setzt sich lediglich dafür ein, dass Fische nicht einfach nur anhand ihrer Fähigkeit, auf Bäume zu klettern als krankhaft oder gestört bezeichnet werden.

Dennoch sind die Neuromehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft nunmal so, wie sie sind, d.h. neurodivergente Fische müssen irgendwie im Hier und Jetzt in einer überwiegend aus neurotypischen Baumkletterern bestehenden Gesellschaft zurechtkommen. Und diese errichtet ihre Städte nunmal auf Baumkronen und interagiert meist in Rudeln.

Das herauszustellen leugnet nicht den Fakt, dass Fische es schwer haben, auf Bäume zu klettern. Das nicht herauszustellen, leugnet jedoch die Rolle der neurotypischen Baumkletterer und entzieht ihnen die Verantwortung, diese Dynamiken zu reflektieren.
(Weil Fis… äh Baumkletterer mit Fischheitsstörung einfach nur irgendwie kaputte Baumkletter sind, nicht wahr?)

Für einige Fische gibt es Hilfsmittel – für manche davon ist es jedoch aus verschiedenen Gründen notwendig, möglichst sicher festzustellen, dass es sich auch wirklich um Fische handelt. Beispielsweise auf Fische abgestimmte Medikamente, Nachteilsausgleiche, Behindertenausweise. Außerdem wissen viele Fische gar nicht, dass sie Fische sind. Auch hierfür benötigt es professionelle Therapeut:innen, die den Fischen erst einmal helfen zu erkennen, woher ihre Kletterschwierigkeiten kommen.

Bei vielen Formen des Barriereabbaus profitieren alle – Fische wie Nicht-Fische. Ein morscher Baum ist immerhin auch für Baumkletterer gefährlich. Und oft sind es die Fische, die das als erstes bemerken – vergleichbar mit dem bekannten Kanarienvogel in der Kohlemine. Hört ihnen endlich mal zu.

Leseempfehlung:
Throw Away the Master’s Tools – Liberating ourselves from the Pathology Paradigm von Dr. Nick Walker, https://neuroqueer.com/throw-away-the-masters-tools/

Autism and the Pathology Paradigm von Dr. Nick Walker, https://neuroqueer.com/autism-and-the-pathology-paradigm/

Kinetic Cognitive Style von Stimpunks, https://stimpunks.org/2021/08/27/kinetic-cognitive-style/

Monotropism, https://monotropism.org/

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