Neurodivergenz – mein Background

Stand: 10/2024

Ich habe im Kindesalter eine formale „ADHS“-Diagnose erhalten und viele Jahre über Medikamente (Concerta) genommen. Diese habe ich jedoch auf eigenen Wunsch (und gegen Empfehlung aus dem Umfeld) vor dem Abitur abgesetzt – eine Entscheidung, die ich nach wie vor nicht bereue, auch wenn es nicht immer einfach ist. Meine ADHS- kinetischen Traits sind nach wie vor recht stark ausgeprägt und haben Einfluss auf mein tägliches Tun und Handeln.

Zum damaligen Zeitpunkt war die gängige Auffassung „entweder ADHS oder Autismus“ – ein Verständnis, das überholt ist. Dadurch wurden viele autistische Traits übersehen bzw. „ADHS“ zugeschrieben, obwohl sie rückblickend betrachtet sehr offensichtlich sind.

Ich bin irgendwann 2022-2023 das erste Mal auf den Begriff AuDHS gestoßen und habe daraufhin angefangen, mich mit aktuellen Ressourcen zu Autismus auseinanderzusetzen. Ich kann gar nicht genug betonen, wie sehr mich die letzten Monate durchgerüttelt haben. Rückblickend betrachtet ergibt mein ganzes Leben, meine ganze Existenz auf einmal Sinn. Das Bewusstsein für den eigenen Neurotyp und die dazugehörigen Ressourcen können ein Game Changer sein. Für mich hat es ein aktives Unmasking in Gang gesetzt, welches eine Euphorie hervorgebracht hat, die mindestens nochmal auf dem Level meiner nonbinary Gender Euphoria ist (für mich ist beides untrennbar, aber das führt an dieser Stelle zu weit).

Ich stehe seit geraumer Zeit im aktiven Austausch mit Betroffenen sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Kinkszene. Ich bin aktiv in der Dresdner ADHS-Selbsthilfebubble, habe „ADHS“-Gesprächskreise in queeren Kinkbubbles organisiert und mich sehr sehr viel mit anderen ausgetauscht.

Ich habe nach wie vor keine „formale“ Autismus-Diagnose. Vielleicht ändert sich das in den nächsten Jahren, vielleicht auch nicht. Ich habe inzwischen eigentlich keinerlei Zweifel mehr, es wäre nur eine zusätzliche Validierung, deren praktischer Nutzen vermutlich sehr überschaubar wäre. Aber einige halten diese Information eventuell für relevant.

Selbstidentifikation in Bezug auf Autismus ist ziemlich akkurat, insbesondere wenn bereits eine ADHS-Diagnose vorliegt. Je nach Studie erfüllen 20-50% der „ADHS“ler:innen die Kriterien für Autismus und 30-80% der Autist:innen die Diagnosekriterien für „ADHS“. Die Zahlen schwanken je nach Erhebung deutlich, aber eines zeigen sie durchgängig: der Overlap ist massiv, die Diagnostik in der Praxis und das Wissen um die gegenseitige Maskierung hängen noch immer stark hinterher (siehe bspw. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/20148275/). Allein die Tatsache, dass ich seit Monaten Ressourcen zu diesen Bereichen verschlinge und Neurodiversität selbst zu einem Special Interest von mir geworden ist, über das ich kaum aufhören kann, zu sprechen und zu schreiben, sagt wohl so einiges.

Meine Ressourcenempfehlungsliste und Erfahrungen sind aus der Sicht einer kinetischen und autistischen Person geschrieben, die bislang trotz „ADHS“-Bewusstseins oft ziemlich maskierend durchs Leben gegangen ist. Ich habe massives Mobbing und Othering erlebt, die meiste Zeit weitgehend einsam verbracht (in sozialen Settings „introvertiertes“ kinetisches Menschlein, jaja, alles klar), mit dem Gefühl, dass kein Mensch der Welt mich wirklich versteht. Meltdowns, Shutdowns und alles drum und dran. Eigentlich ein Wunder, dass ich nicht irgendwann lang anhaltende Depressionen bekommen habe.

Dennoch habe ich ein abgeschlossenes Studium und kriege es dank bestimmter glücklicher Rahmenbedingungen halbwegs hin, einem Vollzeit-IT-Job nachzugehen. Dies ist in dieser Form nur durch dieses Bewusstsein meinerseits möglich. Außenstehende sehen meist nur die Oberfläche, aber nicht den Eisberg, und bewerten anhand dieser Oberfläche.

Diese Privilegien haben nicht alle und ich kann und will nicht für Autist:innen sprechen/schreiben, die in vielen Bereichen hohe Support Needs haben, oder deren Erfahrungen invalidieren.

Ich lehne es jedoch auch entschieden ab, wenn dies rein aus allistischer und/oder unreflektierter Sicht getan wird. Wir brauchen Ressourcen aus der Sicht von Betroffenen für Betroffene. Außerdem ist zu bedenken, dass individuelle Erfahrungen von Person zu Person mitunter sehr stark variieren können.