Ich habe keine Queerness. Ich bin queer. Ich habe kein Autismus. Ich bin autistisch. Ich habe keine „ADHS“. Ich bin kinetisch.

CN Ableismus, Diskriminierung, Konversionstherapien, Othering, Queerfeindlichkeit, Stigmatisierung

Bitte beachtet meinen Background.

„Das ist doch nicht normal!“

In kaum einem Satz verbirgt sich eine derartig große alltägliche Machtdemonstration wie in diesem. Voller Empörung wird er all denjenigen entgegengeschleudert, die auch nur ansatzweise von irgendeiner vermeintlichen Form der „Normalität“ abweichen. Mit ihnen geht stets die Implikation einher, sich dieser entweder bedingungslos zu fügen, oder gefälligst die Konsequenzen in Form von Ablehnung, Ausgrenzung, Diskriminierung oder gar Gewalt ertragen zu müssen und selbst schuld daran zu sein.

Normativität ist ein „wir“ gegen „die“.

„Wir Normalen“ gegen „die Abnormalen“.

Erstere sind die mächtigere soziale Gruppe, die natürlich die Definitionshoheit darüber hat, was als „normal“ zählt. Hinterfragt wird dieses Weltbild meist nicht. Versuche, Abweichungen als Teil der „Normalität“ zu etablieren, erfahren hingegen meist großen Widerstand und werden als Propaganda verschrien.

Die Sache mit der „Normalität“

Im Zuge der Industrialisierung und Siegeszug des Kapitalismus kam es zur Etablierung des Konzepts der „Normalität“. Die Vermessung der Welt und möglichst allem, was sich in ihr vermessen lässt. Arbeitsplätze in Fabriken wurden zur Maximierung der Effizienz normiert – wer außerhalb der Standardabweichung liegt, hatte halt Pech. Das sollte der Profitmaximierung aber nicht im Wege stehen, der Großteil der Arbeitskräfte war ja mit minimalem Aufwand abgedeckt.

Auch im Verständnis dessen, was Gesundheit eigentlich ist, erfolgte ein weitreichender Paradigmenwechsel: Gesundheit war nun nicht mehr primär eine Frage der wie-auch-immer-gearteten Balance oder Ausgewogenheit, sondern eine Frage der Normalität. Ist der Zustand nahe genug dran an der Normalität? Gut, passt, gesund! Gibt es signifikante Abweichungen davon? Krank, gestört, kaputt! Das Ziel von Behandlungen war es nun, den Zustand wieder normal zu bekommen.

(Wer an einem Deep-Dive in dieses unfassbar interessante Thema bekommen möchte, sei [1] ans Herz gelegt!)

Dieses Prinzip ermöglichte immense Fortschritte in der Medizin und ist auf sehr vieles anwendbar. Erst die Normierung ermöglichte es, überhaupt nachvollziehbare und konsistente Kriterien für viele Krankheiten, Medikation und so weiter festzulegen. Auch in Bezug auf Behinderungen gilt dies für vieles. Wer ein Bein verloren hat, den bekommt man vielleicht selbst mit heutigen Möglichkeiten nicht mehr in den „normalen“ Zustand, aber mit Prothesen eben so nahe dran, wie es eben geht.

In Bezug auf Behinderungen folgt daraus das medizinisches Modell der Behinderung: Menschen weichen signifikant von der „Normalität“ ab und sind deswegen behindert – ergo: wir behandeln wir die Menschen so, dass sie möglichst nahe an die „Normalität“ kommen, denn das fixt das Problem.

Eine Frage, die sich jedes Mal stellt, wenn jemand von „normalen Menschen“ spricht: welche denn? Die aus dem bevölkerungsreichsten Land: Indien? Die der Weißen neurotypischen cis Deutschen im hintersten ostdeutschen Kuhkaff? (Anm.: ich komme selbst aus so einem Kuhkaff). Die der Weißen neurotypischen cis Deutschen in Berlin? Männer? Frauen? Welche Generation? Die Lebensrealitäten sind doch mitunter grundverschieden. Für viele Fragestellungen ergibt es schlicht keinen Sinn, irgendeinen Mittelwert der Gesamtbevölkerung heranzuziehen, sondern man grenzt die Gruppe eben sinnvoll ein. Auch in der Medizin ist man irgendwann auf den Trichter gekommen, dass es bspw. ganz schlau wäre, Medikamente, die man Frauen verschreibt, auch an Frauen zu testen. (Nochmal ein ganz eigenes Thema…).

Was der Gipfel der Dämlichkeit ist: irgendwie ist im Zuge all dessen das maximale Mittelmaß zum Ideal geworden, das es zu erreichen gilt. Es ist zu einer Ideologie geworden. Eine Ideologie des Durchschnitts, der Normativität.

Und was hinreichend abweicht, ist ja krankhaft, nicht? Und was krankhaft ist, sollte gar nicht erst Teil der Normalität werden, wo kommen wir denn sonst hin! (/sarcasm)

Die Auswirkungen davon sehen wir auch historisch. Eines der bekanntesten Beispiele dafür dürfte die Linkshändigkeit sein. Der Versuch, die Menschen „normal“ zu machen (aka: umzuerziehen), ist die direkte Konsequenz dieser Ideologie. Die gravierenden Auswirkungen davon sind hinreichend bekannt. Nun, Linkshändigkeit ist nach jahrzehntelangem Kampf irgendwie Teil der Normalität geworden. Auch wenn die Gesellschaft noch immer ein gutes Stück entfernt ist, da echte Gleichberechtigung zu haben, aber das ist ein anderes Thema.

Über den Umgang mit Menschen, die irgendwie von den sexuellen und cisgeschlechtlichen Normen abweichen? Da will ich gar nicht erst anfangen.

„Neurodiversity light“ und der Kampf um die Sprache

Stellt euch mal vor, jemand würde über „Menschen mit Homosexualität“ schreiben. Über „Menschen mit Queerness“.

Man will ja den Menschen zuerst sehen und von deren Störung trennen. Vor etlichen Jahrzehnten wäre so ein Ansatz völlig normal gewesen, wurde Homosexualität doch lange pathologisiert.

Heute würde es berechtigerweise einen Shitstorm sondergleichen nach sich ziehen. Und dann können sich alle auf die Schultern klopfen, weil wir doch heute so reflektiert sind und das nicht mehr zulassen, dass Menschen so behandelt werden…

…um dann im nächsten Atemzug über „Menschen mit Autismus“, „Menschen mit ADHS“, „Menschen mit Dyslexie“ zu schreiben. Oder „Menschen mit einer Neurodiversität“. Eine Diversität zum Mitnehmen, bitte. Wir wollen ja Menschen mit Diversität inkludieren und so.

Neurodiversität ist fancy, Neudodiversität ist hip, so und jetzt bitte hier lang zur Konversionstherapie. Nein, das ist kein Witz, Applied Behaviorial Analysis (ABA) folgt dem gleichen Mindset wie Konversionstherapie für Homosexualität[2] – ist jedoch seit Jahrzehnten Standardtherapie für autistische Menschen und es wird inzwischen fleißig mit Begriffen wie Neurodiversität gebullshitbingo’d.

Neurotypen, also bestimmte Formen der Neurodivergenz, welche von Geburt an bestehen, größtenteils erblich sind und Vor- und Nachteile mit sich bringen, werden noch immer durchweg pathologisiert. Verdacht und Diagnosen erfolgen pathologisch aus einem ganz bestimmten, eingeengten und ignoranten neurotypischen Blickwinkel, wodurch viele Leute durch’s Raster fallen und von Therapie zu Therapie geschickt werden, ohne zu wissen, wer sie eigentlich sind.

Weiblich gelesen? „Gut, hier hast du deine Borderline-Diagnose. Gratulation, du hast eine Persönlichkeitsstörung, deine Persönlichkeit ist gestört, jetzt geh uns nicht weiter auf den Geist.“ (Hierzu gibt es bspw. ein spannendes Kapitel in [3] – die Existenzberechtigung der Borderline-Diagnose wird dort vollständig abgelehnt.)

Double Empathy Probem? Findet keine Erwähnung. – „Du hast Probleme mit Empathie, liegt an dir.“

Interessensbasierte Aufmerksamkeit und Autistic Inertia? Monotropismus? Spontanität? – „Aufmerksamkeitsdefizit! Limitierte Interessen!“

Stimming zur Selbstregulation? – „Abnorme repetitive Bewegungen! Hyperaktivität!“

Verschieden große Support Needs in unterschiedlichen Bereichen? – „Uns interessiert nur, wie sehr du nach unseren Maßstäben FUNKTIONIERST!“

Aber hey, wir sind jetzt voll neurodivers, denn wir erkennen an, dass diese Störungen auch Stärken mit sich bringen! Spontanität, Kreativität, Hyperfokus, Gerechtigkeitssi… *(ne halt, das ist schon wieder negativ, die nerven uns damit)*.

Was sind denn das für Störungen, die größtenteils genetisch sind und nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile mit sich bringen? Wo viele der „Nachteile“ bei genauerem Hinsehen mitunter gar nicht so nachteilig sind, oder nur unter bestimmten Bedingungen? Das hat doch noch nie irgendeinen Sinn ergeben?!

Die Liste lässt sich endlos fortführen. Pathologisierung dieser Neurotypen heißt:

Du weichst ab, deine Abweichung ist das Problem – wir lösen das Problem, indem wir dich normal machen.

Voila: Konversionstherapie. Oder Verständnis von „ADHS“-Medikation als „nimm das und werde neurotypischer“. Nein, so funktioniert das nicht. Glaubt mir, ich hab in meiner Jugend viele Jahre über Medis genommen. So funktioniert das nicht. Medis sind ein Hilfsmittel, sie machen einen aber nicht neurotypischer und bringen ihrerseits Vor- und Nachteile.

Das Problem an Neurodiversity light: es werden ein paar Begriffe genommen, die angestaubten Ansichten werden in etwas wohlklingendere Worthülsen entgegen deren eigentlichen Bedeutung verpackt, irgendwie zusammengewürfelt und durch die wiederholt falschen Verwendungen irgendwann ad absurdum geführt – und die dahinterstehenden Denkmuster aber nicht hinterfragt.

Reframing

Die Problematik hinter Person-first Language wird unter [4] sehr gut erklärt.

Man kann meine Person nicht „von Queerness“ trennen. Weil ich queer bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als cis Mann wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Glaubt mir, ich hab’s aufgrund des Drucks zweieinhalb Jahrzehnte probiert. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter Queerness“, ich leide unter Queerfeindlichkeit und cishetero-Normativität.

Man kann meine Person nicht „von Autismus“ trennen. Weil ich autistisch bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als allistischer Mensch wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Glaubt mir, ich hab’s aufgrund des Drucks zweieinhalb Jahrzehnte probiert.

Ich mag meine starken Interessen. Meinen Gerechtigkeitssinn. Die Kommunikation mit anderen Autis, die gegenseitige Echolalie, das gegenseitige Infodumping. Meine Fähigkeiten zur vielfältigen Mustererkennung. Meine allabendliche Gurke. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter Autismus“, ich leide unter Ableismus und Neuronormativität.

Man kann meine Person nicht „von ADHS“ trennen. Weil ich kinetisch bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als nicht kinetischer Mensch wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Ich mag meine Spontanität, mein Inertia, meine Kreativität, die Kommunikation mit anderen kinetischen Menschen – ja, auch das gegenseitige Ins-Wort-Fallen, das man sich dann gegenseitig überhaupt nicht übel nimmt und einfach im Flow vibed. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter ADHS“, ich leide unter Ableismus und Neuronormativität.

Kinetic Cognitive Style

Moment, kinetisch? Was ist das denn? Waren wir eben nicht noch bei ADHS?

Ja und nein. ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Fällt euch nicht auf, wie komplett kaputt der Begriff selbst ist, mit dem wir uns identifizieren? Wie die Pathologie aus jeder noch so kleinen Pore trieft? Wie der Begriff suggeriert, dass man doch neurotypisch viel besser dran wäre?

Ich hab kein „Konzentrationsdefizit“ (aka Mangel/Fehlen/“zu wenig“). Ich hab im Gegenteil so viel Konzentration, sodass ich manchmal gar nicht weiß, wohin damit, weil diese Gesellschaft verlangt, auf viele Dinge gleichzeitig jeweils moderate, dafür aber stetige Konzentration zu geben.

Ich mag meine Interessensfelder. Ich krieg die Krise bei neurotypischer Kommunikation, wo Leute ewig über banale Sachen quatschen; dann endlich mal ein interessantes Thema aufkommt, was dann direkt wieder abgecuttet wird.

Ich mag Tiefgang und Intensität bei Sachen, die mein Interesse wecken. Dass das von anderen als „gestört“ und „Defizit“ bezeichnet wird, lasse ich mir nicht mehr bieten.

In autistischen Kreisen wird schon eine ganze Weile für depathologisierte Sicht gekämpft. In „ADHS“-Bubbles nimmt das Ganze bislang nur sehr zögerlich Fahrt auf, da der Begriff selbst bereits ausschließlich zutiefst pathologisch und wertend ist. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Leider hat sich bislang kein allgemein verbreiteter Alternativbegriff etabliert.

Aus diesem Grund hat Nick Walker, Autorin des herausragenden Neuroqueer Heresies[5], eine solche Alternative vorgeschlagen: Kinetic Cognitive Style, kurz KCS. KCS beschreibt viel besser, was ich seit meiner Kindheit erlebe.

Der natürliche Zustand dieses Neurotyps ist

 – eine interessens-/impuls-/inertia- und dringlichkeitsgetriebene Aufmerksamkeit

 – Flow und Hyperfokus nehmen eine zentrale Rolle ein

 – das Gehirn funktioniert am besten in Bewegung – mental und physisch, am besten alles gleichzeitig

Mehr Infos über KCS gibt es hier: [6]

Wird sich der Begriff „KCS“ durchsetzen? Keine Ahnung. Ich identifiziere mich damit jedenfalls inzwischen deutlich mehr als mit „ADHS“. Sofern niemand mit einer viel schöneren, bahnbrechenden Begriffsidee kommt, werde ich diesen erst einmal verwenden.

(Allgemeine Anmerkung zu sprachlichen Sachen: wenn man über konkrete Menschen spricht und deren sprachliche Präferenz für ihr eigenes Erleben kennt, sollte man diese respektieren. Allerdings ist es auch wichtig, die Implikationen und Alternativen zu verstehen.)

Wege nach vorn: Neuro-affirmative Ansätze

Neuro-Affirmative Ansätze sind imho die spannendste Entwicklung im Bereich der Neurodivergenz.

Neuro-affirmativ zu sein, bedeutet konsequent aufzuhören, Neurotypen als „kaputtes Neurotypisch“ anzusehen, das Gesamtbild zu betrachten und neurodivergente Kommunikation und Kultur als genau solche zu respektieren. Nicht zu versuchen, eine Person in neurotypische Normalität zu pressen und sich stattdessen auf Selbstbestimmung zu fokussieren. Es bedeutet, Menschen dabei zu helfen, mit ihrem Neurotyp zu arbeiten und nicht gegen diesen. Und es bedeutet, die tiefgreifenden Auswirkungen allgegenwärtiger Diskriminierung, Ableismus und Ausgrenzung in ihrer vollen Bandbreite anzuerkennen.

Aktuell sprießen Ressourcen dazu nur so aus dem Boden – an dieser Stelle nochmal meine Empfehlung bezüglich [3]. Auch bspw. The Psychologist, Magazin der British Psychological Society, hat dazu bereits geschrieben[7].

Ist das Ändern der Sprache die Lösung? Wie oben geschrieben: nein. Es ist notwendiger Teil der Lösung, das Ändern der Sprache allein bringt jedoch nichts, wenn alte Denkmuster nicht hinterfragt werden. Die ersten sehen schon ihre Felle davonschwimmen und versuchen, uns „neuroaffirmatve ABA“ zu verkaufen – das ist, als würde jemand „homoaffirmative Konversionstherapie“ anpreisen.

Stellt euch vor, Menschen könnten einfach ihre Neurotypen erfahren und hätten Zugang zu passenden, neuroaffirmativen Ressourcen – und zwar schon, bevor jahrzehntelanger gesellschaftlicher Druck dazu führt, dass Traits sich in pathologischen „Symptomen“ äußern. Bevor Menschen jahrzentelang immer wieder Traumata erleiden mussten, bis sie irgendwann nicht mehr können. Bevor Ausgrenzung und Mobbing dazu führen, dass Menschen niemandem mehr vertrauen. Wie viele Burnouts, wie viele Depressionen, wie viel Einsamkeit könnten verhindert werden?

Es ist Zeit für eine Revolution. ❤️‍🔥

Quellen & Literatur

[1] Robert Chapman, Empire of Normality – Neurodiversity and Capitalism, 20.11.2023

[2] Daniel E Conine, Sarah C Campau, Abigail K Petronelli, LGBTQ+ conversion therapy and applied behavior analysis: A call to action, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34407211/, 18.08.2021fAB

[3] Davida Hartman, Tara O’Donnell-Killen, Jessica K Doyle, Dr. Maeve Kavanagh, Dr. Anna Day, Dr. Juliana Azevedo, The Adult Autism Assessment Handbook – A Neurodiversity Affirmative Approach, 21.02.2023

[4] Nick Walker, Person-first language is the language of autistiphobic bigotshttps://neuroqueer.com/person-first-language-is-the-language-of-autistiphobic-bigots/, Stand: 04.10.2024

[5] Nick Walker, Neuroqueer Heresies, 01.12.2021

[6] Stimpunks, Kinetic Cognitive Style, https://stimpunks.org/glossary/kinetic-cognitive-style/, Stand: 04.10.2024

[7] The Psychologist, What does it mean to be neurodiversity affirmative?, https://www.bps.org.uk/psychologist/what-does-it-mean-be-neurodiversity-affirmative, 02.01.2024