Ich habe keine Queerness. Ich bin queer. Ich habe kein Autismus. Ich bin autistisch. Ich habe keine „ADHS“. Ich bin kinetisch.

CN Ableismus, Diskriminierung, Konversionstherapien, Othering, Queerfeindlichkeit, Stigmatisierung

Bitte beachtet meinen Background.

„Das ist doch nicht normal!“

In kaum einem Satz verbirgt sich eine derartig große alltägliche Machtdemonstration wie in diesem. Voller Empörung wird er all denjenigen entgegengeschleudert, die auch nur ansatzweise von irgendeiner vermeintlichen Form der „Normalität“ abweichen. Mit ihnen geht stets die Implikation einher, sich dieser entweder bedingungslos zu fügen, oder gefälligst die Konsequenzen in Form von Ablehnung, Ausgrenzung, Diskriminierung oder gar Gewalt ertragen zu müssen und selbst schuld daran zu sein.

Normativität ist ein „wir“ gegen „die“.

„Wir Normalen“ gegen „die Abnormalen“.

Erstere sind die mächtigere soziale Gruppe, die natürlich die Definitionshoheit darüber hat, was als „normal“ zählt. Hinterfragt wird dieses Weltbild meist nicht. Versuche, Abweichungen als Teil der „Normalität“ zu etablieren, erfahren hingegen meist großen Widerstand und werden als Propaganda verschrien.

Die Sache mit der „Normalität“

Im Zuge der Industrialisierung und Siegeszug des Kapitalismus kam es zur Etablierung des Konzepts der „Normalität“. Die Vermessung der Welt und möglichst allem, was sich in ihr vermessen lässt. Arbeitsplätze in Fabriken wurden zur Maximierung der Effizienz normiert – wer außerhalb der Standardabweichung liegt, hatte halt Pech. Das sollte der Profitmaximierung aber nicht im Wege stehen, der Großteil der Arbeitskräfte war ja mit minimalem Aufwand abgedeckt.

Auch im Verständnis dessen, was Gesundheit eigentlich ist, erfolgte ein weitreichender Paradigmenwechsel: Gesundheit war nun nicht mehr primär eine Frage der wie-auch-immer-gearteten Balance oder Ausgewogenheit, sondern eine Frage der Normalität. Ist der Zustand nahe genug dran an der Normalität? Gut, passt, gesund! Gibt es signifikante Abweichungen davon? Krank, gestört, kaputt! Das Ziel von Behandlungen war es nun, den Zustand wieder normal zu bekommen.

(Wer an einem Deep-Dive in dieses unfassbar interessante Thema bekommen möchte, sei [1] ans Herz gelegt!)

Dieses Prinzip ermöglichte immense Fortschritte in der Medizin und ist auf sehr vieles anwendbar. Erst die Normierung ermöglichte es, überhaupt nachvollziehbare und konsistente Kriterien für viele Krankheiten, Medikation und so weiter festzulegen. Auch in Bezug auf Behinderungen gilt dies für vieles. Wer ein Bein verloren hat, den bekommt man vielleicht selbst mit heutigen Möglichkeiten nicht mehr in den „normalen“ Zustand, aber mit Prothesen eben so nahe dran, wie es eben geht.

In Bezug auf Behinderungen folgt daraus das medizinisches Modell der Behinderung: Menschen weichen signifikant von der „Normalität“ ab und sind deswegen behindert – ergo: wir behandeln wir die Menschen so, dass sie möglichst nahe an die „Normalität“ kommen, denn das fixt das Problem.

Eine Frage, die sich jedes Mal stellt, wenn jemand von „normalen Menschen“ spricht: welche denn? Die aus dem bevölkerungsreichsten Land: Indien? Die der Weißen neurotypischen cis Deutschen im hintersten ostdeutschen Kuhkaff? (Anm.: ich komme selbst aus so einem Kuhkaff). Die der Weißen neurotypischen cis Deutschen in Berlin? Männer? Frauen? Welche Generation? Die Lebensrealitäten sind doch mitunter grundverschieden. Für viele Fragestellungen ergibt es schlicht keinen Sinn, irgendeinen Mittelwert der Gesamtbevölkerung heranzuziehen, sondern man grenzt die Gruppe eben sinnvoll ein. Auch in der Medizin ist man irgendwann auf den Trichter gekommen, dass es bspw. ganz schlau wäre, Medikamente, die man Frauen verschreibt, auch an Frauen zu testen. (Nochmal ein ganz eigenes Thema…).

Was der Gipfel der Dämlichkeit ist: irgendwie ist im Zuge all dessen das maximale Mittelmaß zum Ideal geworden, das es zu erreichen gilt. Es ist zu einer Ideologie geworden. Eine Ideologie des Durchschnitts, der Normativität.

Und was hinreichend abweicht, ist ja krankhaft, nicht? Und was krankhaft ist, sollte gar nicht erst Teil der Normalität werden, wo kommen wir denn sonst hin! (/sarcasm)

Die Auswirkungen davon sehen wir auch historisch. Eines der bekanntesten Beispiele dafür dürfte die Linkshändigkeit sein. Der Versuch, die Menschen „normal“ zu machen (aka: umzuerziehen), ist die direkte Konsequenz dieser Ideologie. Die gravierenden Auswirkungen davon sind hinreichend bekannt. Nun, Linkshändigkeit ist nach jahrzehntelangem Kampf irgendwie Teil der Normalität geworden. Auch wenn die Gesellschaft noch immer ein gutes Stück entfernt ist, da echte Gleichberechtigung zu haben, aber das ist ein anderes Thema.

Über den Umgang mit Menschen, die irgendwie von den sexuellen und cisgeschlechtlichen Normen abweichen? Da will ich gar nicht erst anfangen.

„Neurodiversity light“ und der Kampf um die Sprache

Stellt euch mal vor, jemand würde über „Menschen mit Homosexualität“ schreiben. Über „Menschen mit Queerness“.

Man will ja den Menschen zuerst sehen und von deren Störung trennen. Vor etlichen Jahrzehnten wäre so ein Ansatz völlig normal gewesen, wurde Homosexualität doch lange pathologisiert.

Heute würde es berechtigerweise einen Shitstorm sondergleichen nach sich ziehen. Und dann können sich alle auf die Schultern klopfen, weil wir doch heute so reflektiert sind und das nicht mehr zulassen, dass Menschen so behandelt werden…

…um dann im nächsten Atemzug über „Menschen mit Autismus“, „Menschen mit ADHS“, „Menschen mit Dyslexie“ zu schreiben. Oder „Menschen mit einer Neurodiversität“. Eine Diversität zum Mitnehmen, bitte. Wir wollen ja Menschen mit Diversität inkludieren und so.

Neurodiversität ist fancy, Neudodiversität ist hip, so und jetzt bitte hier lang zur Konversionstherapie. Nein, das ist kein Witz, Applied Behaviorial Analysis (ABA) folgt dem gleichen Mindset wie Konversionstherapie für Homosexualität[2] – ist jedoch seit Jahrzehnten Standardtherapie für autistische Menschen und es wird inzwischen fleißig mit Begriffen wie Neurodiversität gebullshitbingo’d.

Neurotypen, also bestimmte Formen der Neurodivergenz, welche von Geburt an bestehen, größtenteils erblich sind und Vor- und Nachteile mit sich bringen, werden noch immer durchweg pathologisiert. Verdacht und Diagnosen erfolgen pathologisch aus einem ganz bestimmten, eingeengten und ignoranten neurotypischen Blickwinkel, wodurch viele Leute durch’s Raster fallen und von Therapie zu Therapie geschickt werden, ohne zu wissen, wer sie eigentlich sind.

Weiblich gelesen? „Gut, hier hast du deine Borderline-Diagnose. Gratulation, du hast eine Persönlichkeitsstörung, deine Persönlichkeit ist gestört, jetzt geh uns nicht weiter auf den Geist.“ (Hierzu gibt es bspw. ein spannendes Kapitel in [3] – die Existenzberechtigung der Borderline-Diagnose wird dort vollständig abgelehnt.)

Double Empathy Probem? Findet keine Erwähnung. – „Du hast Probleme mit Empathie, liegt an dir.“

Interessensbasierte Aufmerksamkeit und Autistic Inertia? Monotropismus? Spontanität? – „Aufmerksamkeitsdefizit! Limitierte Interessen!“

Stimming zur Selbstregulation? – „Abnorme repetitive Bewegungen! Hyperaktivität!“

Verschieden große Support Needs in unterschiedlichen Bereichen? – „Uns interessiert nur, wie sehr du nach unseren Maßstäben FUNKTIONIERST!“

Aber hey, wir sind jetzt voll neurodivers, denn wir erkennen an, dass diese Störungen auch Stärken mit sich bringen! Spontanität, Kreativität, Hyperfokus, Gerechtigkeitssi… *(ne halt, das ist schon wieder negativ, die nerven uns damit)*.

Was sind denn das für Störungen, die größtenteils genetisch sind und nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile mit sich bringen? Wo viele der „Nachteile“ bei genauerem Hinsehen mitunter gar nicht so nachteilig sind, oder nur unter bestimmten Bedingungen? Das hat doch noch nie irgendeinen Sinn ergeben?!

Die Liste lässt sich endlos fortführen. Pathologisierung dieser Neurotypen heißt:

Du weichst ab, deine Abweichung ist das Problem – wir lösen das Problem, indem wir dich normal machen.

Voila: Konversionstherapie. Oder Verständnis von „ADHS“-Medikation als „nimm das und werde neurotypischer“. Nein, so funktioniert das nicht. Glaubt mir, ich hab in meiner Jugend viele Jahre über Medis genommen. So funktioniert das nicht. Medis sind ein Hilfsmittel, sie machen einen aber nicht neurotypischer und bringen ihrerseits Vor- und Nachteile.

Das Problem an Neurodiversity light: es werden ein paar Begriffe genommen, die angestaubten Ansichten werden in etwas wohlklingendere Worthülsen entgegen deren eigentlichen Bedeutung verpackt, irgendwie zusammengewürfelt und durch die wiederholt falschen Verwendungen irgendwann ad absurdum geführt – und die dahinterstehenden Denkmuster aber nicht hinterfragt.

Reframing

Die Problematik hinter Person-first Language wird unter [4] sehr gut erklärt.

Man kann meine Person nicht „von Queerness“ trennen. Weil ich queer bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als cis Mann wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Glaubt mir, ich hab’s aufgrund des Drucks zweieinhalb Jahrzehnte probiert. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter Queerness“, ich leide unter Queerfeindlichkeit und cishetero-Normativität.

Man kann meine Person nicht „von Autismus“ trennen. Weil ich autistisch bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als allistischer Mensch wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Glaubt mir, ich hab’s aufgrund des Drucks zweieinhalb Jahrzehnte probiert.

Ich mag meine starken Interessen. Meinen Gerechtigkeitssinn. Die Kommunikation mit anderen Autis, die gegenseitige Echolalie, das gegenseitige Infodumping. Meine Fähigkeiten zur vielfältigen Mustererkennung. Meine allabendliche Gurke. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter Autismus“, ich leide unter Ableismus und Neuronormativität.

Man kann meine Person nicht „von ADHS“ trennen. Weil ich kinetisch bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als nicht kinetischer Mensch wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Ich mag meine Spontanität, mein Inertia, meine Kreativität, die Kommunikation mit anderen kinetischen Menschen – ja, auch das gegenseitige Ins-Wort-Fallen, das man sich dann gegenseitig überhaupt nicht übel nimmt und einfach im Flow vibed. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter ADHS“, ich leide unter Ableismus und Neuronormativität.

Kinetic Cognitive Style

Moment, kinetisch? Was ist das denn? Waren wir eben nicht noch bei ADHS?

Ja und nein. ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Fällt euch nicht auf, wie komplett kaputt der Begriff selbst ist, mit dem wir uns identifizieren? Wie die Pathologie aus jeder noch so kleinen Pore trieft? Wie der Begriff suggeriert, dass man doch neurotypisch viel besser dran wäre?

Ich hab kein „Konzentrationsdefizit“ (aka Mangel/Fehlen/“zu wenig“). Ich hab im Gegenteil so viel Konzentration, sodass ich manchmal gar nicht weiß, wohin damit, weil diese Gesellschaft verlangt, auf viele Dinge gleichzeitig jeweils moderate, dafür aber stetige Konzentration zu geben.

Ich mag meine Interessensfelder. Ich krieg die Krise bei neurotypischer Kommunikation, wo Leute ewig über banale Sachen quatschen; dann endlich mal ein interessantes Thema aufkommt, was dann direkt wieder abgecuttet wird.

Ich mag Tiefgang und Intensität bei Sachen, die mein Interesse wecken. Dass das von anderen als „gestört“ und „Defizit“ bezeichnet wird, lasse ich mir nicht mehr bieten.

In autistischen Kreisen wird schon eine ganze Weile für depathologisierte Sicht gekämpft. In „ADHS“-Bubbles nimmt das Ganze bislang nur sehr zögerlich Fahrt auf, da der Begriff selbst bereits ausschließlich zutiefst pathologisch und wertend ist. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Leider hat sich bislang kein allgemein verbreiteter Alternativbegriff etabliert.

Aus diesem Grund hat Nick Walker, Autorin des herausragenden Neuroqueer Heresies[5], eine solche Alternative vorgeschlagen: Kinetic Cognitive Style, kurz KCS. KCS beschreibt viel besser, was ich seit meiner Kindheit erlebe.

Der natürliche Zustand dieses Neurotyps beinhaltet unter anderem

 – eine interessens-/impuls-/inertia- und dringlichkeitsgetriebene Aufmerksamkeit

 – eine zentrale Rolle einnehmenden Flow und Hyperfokus

 – ein am besten in Bewegung arbeitendes Gehirn – mental und physisch, am besten alles gleichzeitig; mentale Beschleunigung und Abbremsen sind hingegen meist deutlich herausfordernder (siehe Autistic Inertia)

Mehr Infos über KCS gibt es hier: [6]

Wird sich der Begriff „KCS“ durchsetzen? Keine Ahnung. Ich identifiziere mich damit jedenfalls inzwischen deutlich mehr als mit „ADHS“. Sofern niemand mit einer viel schöneren, bahnbrechenden Begriffsidee kommt, werde ich diesen erst einmal verwenden.

(Allgemeine Anmerkung zu sprachlichen Sachen: wenn man über konkrete Menschen spricht und deren sprachliche Präferenz für ihr eigenes Erleben kennt, sollte man diese respektieren. Allerdings ist es auch wichtig, die Implikationen und Alternativen zu verstehen.)

Wege nach vorn: Neuro-affirmative Ansätze

Neuro-Affirmative Ansätze sind imho die spannendste Entwicklung im Bereich der Neurodivergenz.

Neuro-affirmativ zu sein, bedeutet konsequent aufzuhören, Neurotypen als „kaputtes Neurotypisch“ anzusehen, das Gesamtbild zu betrachten und neurodivergente Kommunikation und Kultur als genau solche zu respektieren. Nicht zu versuchen, eine Person in neurotypische Normalität zu pressen und sich stattdessen auf Selbstbestimmung zu fokussieren. Es bedeutet, Menschen dabei zu helfen, mit ihrem Neurotyp zu arbeiten und nicht gegen diesen. Und es bedeutet, die tiefgreifenden Auswirkungen allgegenwärtiger Diskriminierung, Ableismus und Ausgrenzung in ihrer vollen Bandbreite anzuerkennen.

Aktuell sprießen Ressourcen dazu nur so aus dem Boden – an dieser Stelle nochmal meine Empfehlung bezüglich [3]. Auch bspw. The Psychologist, Magazin der British Psychological Society, hat dazu bereits geschrieben[7].

Ist das Ändern der Sprache die Lösung? Wie oben geschrieben: nein. Es ist notwendiger Teil der Lösung, das Ändern der Sprache allein bringt jedoch nichts, wenn alte Denkmuster nicht hinterfragt werden. Die ersten sehen schon ihre Felle davonschwimmen und versuchen, uns „neuroaffirmatve ABA“ zu verkaufen – das ist, als würde jemand „homoaffirmative Konversionstherapie“ anpreisen.

Stellt euch vor, Menschen könnten einfach ihre Neurotypen erfahren und hätten Zugang zu passenden, neuroaffirmativen Ressourcen – und zwar schon, bevor jahrzehntelanger gesellschaftlicher Druck dazu führt, dass Traits sich in pathologischen „Symptomen“ äußern. Bevor Menschen jahrzentelang immer wieder Traumata erleiden mussten, bis sie irgendwann nicht mehr können. Bevor Ausgrenzung und Mobbing dazu führen, dass Menschen niemandem mehr vertrauen. Wie viele Burnouts, wie viele Depressionen, wie viel Einsamkeit könnten verhindert werden?

Es ist Zeit für eine Revolution. ❤️‍🔥

Quellen & Literatur

[1] Robert Chapman, Empire of Normality – Neurodiversity and Capitalism, 20.11.2023

[2] Daniel E Conine, Sarah C Campau, Abigail K Petronelli, LGBTQ+ conversion therapy and applied behavior analysis: A call to action, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34407211/, 18.08.2021fAB

[3] Davida Hartman, Tara O’Donnell-Killen, Jessica K Doyle, Dr. Maeve Kavanagh, Dr. Anna Day, Dr. Juliana Azevedo, The Adult Autism Assessment Handbook – A Neurodiversity Affirmative Approach, 21.02.2023

[4] Nick Walker, Person-first language is the language of autistiphobic bigotshttps://neuroqueer.com/person-first-language-is-the-language-of-autistiphobic-bigots/, Stand: 04.10.2024

[5] Nick Walker, Neuroqueer Heresies, 01.12.2021

[6] Stimpunks, Kinetic Cognitive Style, https://stimpunks.org/glossary/kinetic-cognitive-style/, Stand: 04.10.2024

[7] The Psychologist, What does it mean to be neurodiversity affirmative?, https://www.bps.org.uk/psychologist/what-does-it-mean-be-neurodiversity-affirmative, 02.01.2024

Über persönliche Safe Persons auf mehrtägigen Events

CN Ableismus

Mehrtägige (Kink-)Events, Festivals o.Ä. sind eine tolle Sache und gleichzeitig ein Siedetopf für Menschen unterschiedlichster Backgrounds und somit ein Minenfeld der sozialen Interaktion. Insbesondere Autist:innen (und insbesondere autistische Menschen, die sich dessen selbst noch nicht bewusst sind!) stellt das vor entsprechende Herausforderungen.

Ausgangssituation

Eine der Dynamiken, die daraus entstehen können und ein Paradebeispiel für das soziale Modell der Behinderung ist, ist folgende:

Es ist wahrscheinlich, dass jemand nach anfänglicher Anxiety endlich 1-2 Leute kennenlernt, mit denen die Person sich gut versteht und diese recht schnell als Safe Persons sieht. Zu diesen kehrt der:diejenige immer wieder zurück und möchte möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen, weil mensch froh bist, jemanden gefunden zu haben. Da Socializing oftmals hohe Barrieren für Autis hat (teils Double Empathy-Mehrheitsbedingt, teils sozialisierungs-/traumabedingt, teils umgebungsbedingt), ist die Verlockung groß, recht schnell auf 1-2 Personen „einzulocken“, die man am ersten Tag kennengelernt hat. Monotropismus verstärkt dies mitunter enorm.

Solche Safe Persons können etwas sehr schönes und gerade bei Events mit größerem Gewusel extrem hilfreiches sein.

Das Problem

Eine solche Safe Person für eine andere Person zu sein, die entsprechende Support Needs hat, bzw. froh ist, sich endlich mal Menschen mitteilen zu können und eben nicht alleine auf einer Bank sitzen zu müssen (oder als letzte Person ins Team „gewählt“ zu werden x_x), kann mitunter seinerseits ziemlich Spoons veranschlagen und Menschen unter Druck setzen. Insbesondere, wenn das noch mit Trauma Dumping einhergeht, weil mensch sich endlich mal jemandem mitteilen kann.

Das resultiert dann aus Sicht der anderen Person in ein „ja also ich finde den Menschen ja eigentlich ganz nett, will aber auch nicht, dass mensch mir die ganze Zeit hinterherläuft. Ich will mensch aber auch nicht direkt wegschicken, weil ich nicht fies sein will“, was sehr anstrengend sein kann.

In einer allistischen Welt wird idR erwartet, dass mensch so was irgendwie „zwischen den Zeilen liest“ oder irgendwie „merkt“. (An dieser Stelle sei auf die Baumkletterergesellschaft verwiesen.)

Da allistische Social Cues für autistische Menschen so eine Sache sind, bekommen Autist:innen das mitunter aber gerade eben nicht mit und gehen dann Personen auf die Nerven, mit denen sie eigentlich gut klarkommen, ohne dass sie das wollen. Oft endet das darin, dass Menschen dann mitunter versuchen, möglichst unauffällig auszuweichen, heimlich hoffen, der Person gerade mal für 1-2 Stunden nicht über den Weg zu laufen oÄ. Falls überhaupt, erfährt die betroffene Person das dann oft auf recht unschöne Art und Weise, was dann Selbstbewusstsein noch weiter untergräbt.

Lösungsstrategien

Ich habe diese Dynamik auf eigentlich allen Seiten bereits erlebt (wenn auch in unterschiedlichen Intensitäten) – als Social-Cues-nicht-verstehende-Person, als Safe Person für jemand anderes, als Person in einer Gruppe mit einer anderen Person, die irgendwie von jemandem als Safe Person auserkoren wurde. Es gibt leider keine magische Wunderlösung, die man einfach anwenden kann, um das zu vermeiden. Ein paar Gedanken dazu hätte ich dennoch. Das Wichtigste ist eigentlich, diese Dynamik auf dem Schirm zu haben.

Als (unfreiwillige) Safe Person:

  • „Aber der Mensch muss das doch eigentlich mal merken!“ – Nein. Merkt mensch mitunter eben nicht. Vor allem nicht nach mehreren Tagen Event, wo Maskingenergie kaum noch vorhanden ist und allistische Social Cues noch häufiger übersehen werden als sonst.
  • Bitte blamed andere nicht dafür, das „nicht zu merken“, auch nicht hinter deren Rücken. Das passiert dann leider häufig, wird die Social Anxiety für die Person aber nur noch weiter vergrößern. Dazu kommt noch, dass betroffene Menschen bereits sehr viel Erfahrung mit Othering machen mussten. Das ist ein elendiger Teufelskreis.
  • Es ist absolut ok und sinnvoll, Grenzen zu setzen und zu kommunizieren, dass man für bestimmte Dinge bzw. deren Intensität keine Spoons hat. Das ist imho deutlich besser und fairer, als mit der Situation unglücklich zu sein oder hintenrum über betroffene Personen zu lästern.
  • Es muss einerseits klar kommuniziert werden – „zwischen den Zeilen“ funktioniert nicht! – andererseits ist dennoch etwas Fingerspitzengefühl angebracht. Das kann in der Situation scary sein, wenn man nicht „zu hart“ sein oder missverstanden werden will – auf der anderen Seite mag ein „du gehst mir auf den Sack“ zwar direkt und unmissverständlich sein, ist aber einfach nur wahnsinnig unempathisch.
  • Bedenkt, dass die andere Person die andere Person dieses Eierschalenlauf-Problem bei sehr vielen sozialen Interaktionen hat, weil sie meist sehr oft im Leben angeeckt ist und missverstanden wurde (deswegen kommt mensch ja auch erst in die Situation).
  • Beachtet dennoch, dass einige autistische Menschen massive Social Anxiety entwickelt haben, weil ihnen permanent gesagt wurde, dass sie „zu viel“ sind. Wenn diese sich euch öffnen, tun sie das nicht, weil sie euch auf die Nerven gehen wollen, sondern weil sie euch eben als safe ansehen. Es ist nicht immer einfach, da eine Balance zu finden.
  • Leider ist das mit dem direkten Mitteilen umso schwieriger, wenn eins selbst zu den People Pleasern gehört. Hier können gegebenenfalls Personen im Umfeld helfen, die diese Situation mitbekommen.
  • Ggf. können in solchen Situationen beispielsweise Techniken der Gewaltfreien Kommunikation sehr hilfreich sein.

Als Person auf der anderen Seite

  • Versucht, sofern es euch möglich ist, nicht in obige Falle zu tappen, nach dem ersten Tag komplett auf 1-2 Leute „einzulocken“. Ja, das bedeutet leider Socializing, I know. Auch da gibt es kein Wundermittel und das Thema ist eigene Writings wert.
  • Bitte vermeidet permanentes unsolicited Traumadumping. Es kann sehr befreiend sein, endlich mit einer Person reden zu können. Über mehrere Tage hinweg sind bestimmte Themen aber für die andere Seite wirklich sehr anstrengend, vor allem wenn diese mit starken negativen Emotionen verknüpft sind. Das kann unglaublich schnell die eigenen Batterien leersaugen, die eins eigentlich auf dem Event selbst aufladen wollte. Das heißt nicht, dass ihr verschlossen bleiben solltet. Die Dosis macht das Gift.
  • Je nach Event kann es sich beispielsweise stattdessen anbieten, gezielt einen Gesprächskreis mit Menschen zu starten, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Erfahrungsgemäß sind in queeren Kink-Bubbles meist definitiv genug Interessent:innen da! Und ganz nebenbei lernt ihr da neue Personen kennen.
  • Wie oben beschrieben, kann es gut sein, dass euch immer wieder gesagt wurde, dass ihr „zu viel“ seid und ihr deswegen Angst habt, überhaupt an Personen heranzutreten oder euch diesen zu öffnen. Das ist keine gute Lösung. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Auch hier gilt: Die Dosis macht das Gift.
  • Im Zweifelsfall: sprecht es an. Letztlich ist das dann auch nur ein Konsensgespräch. Ihr werdet manchmal positiv überrascht sein!
  • Leider sind die Hürden in unserem Gesundheitssystem mitunter sehr hoch, für autistische Menschen (ob sie selbst wissen, dass sie autistisch sind oder nicht…) hat das ohnehin schon cursed System nochmal ganz eigene Barrieren. Dennoch ist ein Kink-Event vielleicht nicht der richtige Ort, um große Traumata erstmalig anzugehen und entsprechende Grundlagenaufarbeitung zu leisten. Wenn ihr den Verdacht hegt, eventuell autistisch und/oder kinetisch („ADHS“) zu sein, lohnt es sich extrem, sich mit entsprechenden Ressourcen auseinanderzusetzen, da diese Neurotypen mitunter ganz andere Herangehensweisen benötigen und das Wissen von Menschen im Gesundheitsweisen in dieser Hinsicht oft gnadenlos überschätzt wird. Vertraut dabei nicht den ersten Google-Suchergebnissen, sondern konsultiert Ressourcen von Betroffenen für Betroffene.