Kinetic Cognitive Style („ADHS“) und Gruppendynamiken: Eine neuroaffirmative Betrachtung

In letzter Zeit gibt es viele tolle Diskurse zu den Wechselwirkungen und Implikationen von Autismus in Bezug auf Gruppendynamiken und Konsens. Durch den großen Overlap der Neurotypen ist vieles davon auch für Menschys hilfreich, die sich bislang nur im kinetischen („ADHS“) Spektrum verorten. Für kinetische Traits hingegen fehlt es noch an Ressourcen, die sich explizit mit dem Thema auseinandersetzen. Das ist sehr schade, da beispielsweise die Kink-Szene viele kinetische Menschen anzieht und gleichzeitig kinetische Verhaltensweisen schnell zu Konsensproblemen führen können, wenn diese unreflektiert bleiben.

Dieses Writing stellt daher einen Versuch dar, mal ein paar solcher Bereiche und dazugehörige Gedanken meinerseits aufzulisten, in denen diese Wechselwirkung relevant ist. Es erhebt dabei nicht den Anspruch, vollständig oder in irgendeiner Form „wissenschaftlich korrekt“ zu sein, sondern setzt sich aus meinem Wissen über kinetische Traits, neurodivergente Communitys und meinen bisherigen Erfahrungen in der Kink-Szene zusammen.

Hinweis zur Sprache:

Ich verfolge inzwischen so konsequent wie möglich einen neuroaffirmativen Ansatz. Während neuroaffirmative Ressourcen bei Autismus schon etwas weiter sind, ist das bei „ADHS“ noch anders, und im deutschsprachigen Raum sieht’s erst recht zappenduster aus. Da der Begriff „ADHS“ bereits in sich problematisch ist, verwende ich daher zunehmend die von Nick Walker geprägten Bezeichnung „Kinetic Cognitive Style“ (kurz KCS) und schreibe von Kinetics – mehr dazu hier: https://luux.dev/2024/10/ich-bin-kinetisch/.

KCS ist noch kein etablierter Begriff und neuroaffirmativ zu sein fühlt sich beim kinetischen Neurotyp noch danach an, gleich mehrere Tabus zu brechen und Neuland zu betreten. Betrachtet dieses Writing daher gerne als eine Art Experiment. 😊

Hinweis zu Diskursen:
Ich möchte explizit dazu einladen, mit neuroaffirmativer Sprache zu experimentieren. Ich bitte jedoch darum, allgemein die Präferenz von individuellen Menschys, die sich der Unterschiede bewusst sind(!) und sich dennoch(!) für andere Sprache entscheiden, zu respektieren.

Bitte beachtet meinen Background.

Genug des Vorgeplänkels, auf ins Thema!

Kinetic Cognitive Style (KCS)

Kinetic Cognitive Style ist vor allem geprägt durch:

  • eine interessens-/impuls-/inertia-/belohnungs- und dringlichkeitsgetriebene Aufmerksamkeit
    • priorisiert oft auch vor allem Dinge, die unmittelbar vor einem liegen
    • Impulse können Aufmerksamkeit mitunter komplett einfangen
  • eine zentrale Rolle einnehmenden Flow und Hyperfokus
    • Autistic Inertia, „Ferrarimotor mit den Bremsen eines Fahrrads“
  • ein am besten in Bewegung arbeitendes Gehirn; mental und physisch, am besten alles gleichzeitig; mentale Beschleunigung und Abbremsen sind hingegen meist deutlich herausfordernder (siehe Autistic Inertia)

Diese Dinge bilden den natürlichen Zustand von kinetischen Menschen. Ihre innere Balance ist da, wo andere komplettes Chaos und „Unruhe“ sehen. Die genauen Ausprägungen von Traits sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich und werden durch das Umfeld, Sozialisierung, Lebenserfahrungen etc. beeinflusst. Abweichungen davon (etwa „Emulation“ einer stetigen, ausgeglichenen Aufmerksamkeit) sind oftmals in begrenztem Umfang möglich. Sie kosten allerdings viel mentale Kapazität, sind also auf Dauer eine ungesunde, erzwungene Abweichung von der Arbeitsweise, für die das Gehirn ausgelegt ist.

Die Interaktion mit und vor allem auch zwischen kinetischen Menschen kann zu tollen Dynamiken und zu einer regelrechten kinetischen Resonanz mit einem Feuerwerk an kreativen Ideen in einem wunderbaren Flow führen – ein Konzept, das mir schon eine Weile im Kopf herumgeistert und dem ich vermutlich nochmal ein eigenes Writing widmen möchte.

Kinetische Aufmerksamkeit ist Interessens-, Impuls- und Inertiagesteuert, auch Flow und der allseits bekannte Hyperfokus spielen eine wichtige Rolle. Daraus ergeben sich vielerlei Implikationen, die sich einseitig betrachtet in „ADHS-Symptomen“ widerspiegeln, beispielsweise:

  • Priorisierung von Dingen, die unmittelbar vor einem liegen
    • Deadline-getriebene Arbeit
    • Einfluss auf Objektpermanenz (auch für nicht-physisches!)
    • Last-Minute-Hektik
    • Impulse können den Aufmerksamkeitstunnel mitunter komplett „wegsaugen“
      • „Aufmerksamkeitsdefizit“ bei geforderter alternativlos gleichmäßiger Konzentration
      • derselbe Mechanismus kann je nach Aufgabenbereich vorteilhaft sein!
    • Stimming zur Selbstregulation, in-Bewegung-Arbeiten –> „Hyperaktivität“

Das Spiel lässt sich beliebig fortsetzen.
(Wie oben erwähnt fühlt sich ein derartiges Reframing mMn nach Tabubruch und für mich zugleich unfassbar befreiend an!)

An dieser Stelle auch ein Hinweis, dass dieses Reframing etwas ganz anderes als die altbekannte „das Kind ist doch nur lebhaft“-Leier ist. Letztere, invalidiert die Lebensrealitäten von Betroffenen. Es ignoriert die Diskriminierung, die soziale Ausgrenzung, die zahlreichen strukturellen Nachteile von Kinetics in unserer Gesellschaft. Es spricht ihnen ihre eigene Lebensrealität und die Berechtigung zu Ressourcen, Community, Therapie, und Medikation ab. Das steht in deutlichem Kontrast zu Neuroaffirmität.

Vergleiche wie „Ferrarimotor mit den Bremsen eines Fahrrads“, „never wanting to start and never wanting to stop“ sind populär und können recht hilfreich zur Veranschaulichung sein. Neurotypische Kommunikation ist hingegen eher mit Stop-and-Go-Verkehr vergleichbar. Chaos vorprogrammiert.

Konsequenzen

Daraus ergeben sich viele Implikationen in der Interaktion mit anderen.

Viele der daraus resultierenden Verhaltensweisen stoßen bis zu einem gewissen Grad unter anderen kinetischen Menschen auf deutlich mehr intuitives Verständnis und Kompatibilität, werden aber von anderen schnell als „anstrengend“ oder gar problematisch wahrgenommen. Während ein besseres Verständnis für das Double Empathy-Problem insbesondere seitens neurotypischer Menschen einerseits vieles davon entschärfen würde, ist gleichzeitig von Seiten kinetischer Personen Reflexion definitiv sinnvoll – insbesondere bei Verhaltensweisen, die unmittelbar die Grenzen anderer betreffen.

Ziel muss es langfristig sein, ein Miteinander zu schaffen, das die Grenzen und Möglichkeiten aller Neurotypen inkludiert und respektiert, ohne neurodivergente Menschen zum permanenten Masking zu zwingen.

Aktuell sind wir leider gesellschaftlich sehr weit davon entfernt. Das Erlernen des sozialen Umgangs miteinander geschieht fast ausschließlich von neurotypischem Standpunkt aus. Andere Neurotypen gelten als pathologisch und Betroffene sollen sich bitte bestmöglich dem neurotypischen Standard annähern. Das stellt neurodivergente Menschen vor enorme Herausforderungen und durch fehlende (nicht komplett biased) Aufklärung und Ressourcen müssen sie sich vieles im Laufe der Jahre selbst erarbeiten, was mal mehr, mal weniger gut funktioniert. Noch gravierender wird es durch die Tatsache, dass nach wie vor viele Menschen nicht wissen, dass sie kinetisch sind und somit keinen Zugang zu Community und Ressourcen haben. Und wenn sie dann Zugang zu Ressourcen und beispielsweise Therapie bekommen, so sind diese oft einseitig defizitbasiert. Statt zu helfen, Hand in Hand mit ihrer Neurologie zu arbeiten, heißt es „Gratulation, du bist gestört, daher kommt dein Problem, wenn es gehen würde, sollten wir dich am besten neurotypisch machen, denn damit löst sich das!“.

Erschwerend hinzu kommt, dass kinetische Traits recht schnell kommunikativ nach außen wirken und daher von Neurotypischen oft als „disruptiver“ gesehen werden als etwa autistische Traits, von bspw. Meltdowns abgesehen. Kinetics sind die Impulsiven, die Niemals-Still-Sitzen-Bleibenden, die Abweichler, die Aus-der-Reihe-Tanzenden, die Störenfriede, die Systemsprenger. Ein natürliches Feindbild all derjenigen, die so verbittert auf Konformität um jeden Preis drängen.

Auch reguläre Konsens-Einführungsressourcen gehen oft von ebenfalls einem neurotypischen Standpunkt aus. Was natürlich zu Problemen führt, da kinetische Traits und Sozialisierung schnell dazu führen, dass sie als „aufdringlicher“ wahrgenommen werden.

Und natürlich spielen auch geschlechtsspezifische Sozialisierung und Erwartungshaltungen dabei eine nicht zu verachtende Rolle. Bestimmtes Verhalten wird bei männlicher Sozialisierung eher a la „Boys will be Boys“ weggelächelt oder gar gefördert, bei weiblicher Sozialisierung hingegen oft von Anfang an sanktioniert, was aber oft leider wenig in gesunder Reflektion/Regulation, sondern eher in größerem Masking endet.

Ähnliche Dynamiken gibt es bei Autismus: In Bezug auf Autismus zeigen die Ergebnisse des CAT-Q – welcher versucht, Masking zu quantifizieren – einen deutlich höheren Masking-Score für Frauen und nichtbinäre Menschen! (Mich würde interessieren, wie die Verteilung bei kinetischen Menschen aussieht, wobei der Overlap ja ohnehin signifikant ist.) – siehe https://embrace-autism.com/cat-q/#Average_scores

Ich schweife ab. Kommen wir zum eigentlichen Thema!

KCS-Einfluss auf Gruppen- bzw. Veranstaltungskontext

Insbesondere auf mehrtägigen Events lauern überall neue interessante Dinge überall, was das kinetische Gehirn schnell in Fahrt bringt. Entstehende Gruppendynamiken sind oft eine stete Dopaminquelle, was den Motor am Laufen hält.

Raumeinnahme und Gruppendynamiken

Gerade in Gruppen passiert es schnell, dass in Fahrt geratene kinetische Menschys mitunter recht viel Energie in den Raum bringen. In der Interaktion mit anderen Kinetischen ist das super! Neurotypische Menschen hingegen haben schnell Probleme, mit dieser Energie umzugehen.
Sofern jedoch nicht alle in der Gruppe mit dieser Energie resonieren, führt das schnell dazu, dass Kinetics gegenüber anderen recht viel Raum einnehmen. Oft bemerken kinetische Menschen das nicht unbedingt. Anders herum ist es als kinetische Person auch unfassbar anstrengend, ständig mit angezogener Handbremse unterwegs sein zu müssen.

Die Erfahrung zeigt, dass bspw. in Gesprächsrunden angepasste Kommunikationsregeln wahre Wunder wirken können. Möglich sind beispielsweise nonverbale Gesprächssignale mit unterschiedlichen Bedeutungen, beispielsweise Zustimmung/Ablehnung. Aber auch solche, die den gewünschten Gesprächsfluss anzeigen können, beispielsweise Melden mit Unterscheidung zwischen „neues Thema/neuer Aspekt“, „ich möchte an das Gesagte dieser Person anknüpfen“ und „bitte langsam zum Punkt kommen“. Wir haben damit schon sehr gute Erfahrungen gemacht. Diese Signale helfen auch Autist:innen mitunter massiv, da sie bei Klarheit schaffen, wer wo zu Wort kommen möchte und somit Struktur in das Gespräch bringen.

Anders sieht es aus, wenn Menschen gerade erschöpft sind und derlei Energie nur punktuell Probleme macht – scheut nicht davor zurück, offen zu kommunizieren, gerade ein wenig Space zu benötigen.

Von Gesprächen abgesehen können Gruppendynamiken zudem zu Leichtsinn, Selbstüberschätzung und dummen Aktionen führen. Je nachdem, in welchem Feld man sich bewegt, kann das problematisch oder sogar gefährlich sein.

„aufdringlich wirken“, „pushy“ sein

Insbesondere in Kombination mit autistischen Traits kann es vorkommen, dass „subtile“ Social Cues nicht erkannt werden. Dies kann beispielsweise passieren, wenn eine kinetisch-autistische Person jemanden als Safe Person ansieht. Hierzu habe ich bereits ein ausführliches Writing verfasst, siehe https://luux.dev/2024/09/uber-personliche-safe-persons-auf-mehrtagigen-events/.

Hyperfokus + „shiny new thing“ bergen zudem das Risiko, dass man zu schnell zu viel will und mitunter eine andere Person unbeabsichtigt bedrängt. Beim kombinierten Neurotyp führt das mitunter zu einer fiesen Wechselwirkung: die Interaktion gibt dem Gehirn Dopamin; es kommt in Fahrt und in seinen Tunnel, während Auti-typisch die zwischen-den-Zeilen-Signale nicht erkannt werden. Die andere Person verlässt sich hingegen sozialisierungsbedingt auf genau diese Signale, um anzuzeigen, dass es gerade etwas viel wird. In der Summe ist das eine eher ungute Kombination, deren Lösung auch nicht einfach in Regeln zu gießen ist.

Zu verlangen, dass Kinetics/Autist:innen „das einfach können müssen“, ignoriert gerne die Lebensrealität dieser Neurotypen und die Tatsache, dass viele ihren Neurotyp noch gar nicht kennen und stark maskierend durch ihren Alltag gehen, insbesondere nach mehreren Tagen Event diese Maske jedoch nicht mehr gut funktioniert. Bisheriger Austausch und Erfahrungen zeigen mir, dass auch Personen, die ich als sehr stark reflektiert und konsensaware einschätze, nicht komplett vor dieser Dynamik gefeit sind und erst im Nachgang überlegen, ob sie nicht hier oder da zu pushy waren. Das ist übrigens nicht auf ein Geschlecht beschränkt, auch wenn cis Männer aufgrund der eingangs erwähnten Faktoren wahrscheinlich häufiger auffallen; wobei ich vor allem FLINTA* habe darüber reflektieren sehen (das ist allerdings anekdotische Evidenz).

Wer man jedoch seinen Neurotyp nicht kennt, fehlen Zugang zu Ressourcen und Community – Ansätze für neurotypische Menschen funktionieren oft nur bedingt, führen hingegen aber schnell zu auslaugendem und auf Dauer sehr ungesundem Masking. Es ist daher umso wichtiger, sich mit dem Thema Neurodivergenz auseinanderzusetzen.

Bei allem Neurodivergenzverständnis darf dies jedoch keine Entschuldigung für klare Grenzverletzungen sein!

Zu verlangen, dass sich bedrängt/gepusht fühlende Personen „einfach klar kommunizieren müssen“, lässt hingegen auf ein potentiell problematisches Konsensverständnis schließen, da es beispielsweise Personen überrumpelt, die eine eher subtile Art der Kommunikation verwenden und/oder zu People Pleasing neigen. Eine solche Einstellung führt schnell zu Victim Blaming.

Besonders problematisch wird diese Kombination, wenn zusätzlich unreflektierte Machtunterschiede vorhanden sind, bspw. sozialer Status.

Beides lässt sich zu einem gewissen Grad lernen, beides benötigt jedoch Reflexion und mitunter einiges an Arbeit. Es kommt aber auch vor, dass Kommunikationsstile schlicht nicht sonderlich kompatibel sind. Ich halte es für einen Irrglauben anzunehmen, dass ein Mensch generell für alle anderen Menschen „safe“ sein kann. „Safe enough“ ist aber in einer Community oft ausreichend und imho ein realistisches Ziel, sofern diese Bereitschaft von allen geteilt wird. Oft wachsen Menschen durch Entwickeln von gegenseitigem Verständnis zusammen. Gegenseitiges Verständnis ist langfristig der Schlüssel.

Gruppenorganisation – Zeitwahrnehmung, Zeitmanagement und „getting things done“

KCS geht mit einer anderen, nichtlineareren Wahrnehmung des Konzepts von „Zeit“ einher.

Die obigen Kerneigenschaften von KCS stehen hiermit in Wechselwirkung – auch hier fokussiert die Aufmerksamkeit vor allem die Dinge, die als Impulse kommen, mit gewisser Dringlichkeit einhergehen oder im unmittelbaren Interesse liegen. Ebenso resultiert sind die Auswirkungen auf Objektpermanenz auf Nicht-Physisches übertragbar. Bei nicht im Fokus stehenden Terminen resultiert das etwa in einem „aus-dem-Augen-aus-dem-Sinn“-Effekt.

Kinetische Zeitwahrnehmung ist ein sehr interessantes Feld, über das auch eigens geforscht wird. Zeitgleich sind die daraus entstehenden Effekte einer der im Alltag relevantesten Aspekte des Neurotyps, welcher noch dazu oft auf sehr wenig Verständnis stößt. Neurotypische Mechanismen (die u.a. über Jahrzehnte beigebracht wurden) funktionieren hingegen oft nicht für uns, da diese auf einer anderen Zeitwahrnehmung beruhen. Oft gehen diese etwa im Verbund mit für Kinetics toxischen Produktivitätstipps wie dem „eat the frog first“-Prinzip einher. Das alles führt oft zu Dingen wie Prokrastination, Deadline-Getriebenheit oder Deadline-Verpassen, Dinge in „falscher“ Reihenfolge anzugehen oder die benötigte Zeit für Aufgaben zu unterschätzen.

Und als wäre das alles noch nicht genug, stehen diese Dinge meist konträr zu autistischen Traits, welche Vorhersagbarkeit und Verlässlichkeit präferieren oder gar voraussetzen. Ist eine Person sowohl kinetisch als auch autistisch, kann es sehr schwierig sein, diese (scheinbar?) gegensätzlichen Aspekte unter einen Hut zu bekommen.

Das hat natürlich entsprechende Auswirkungen auf insbesondere organisatorische Gruppenaspekte. Dinge mit kinetischen Menschen zu planen, kann für Menschen anderer Neurotypen herausfordernd sein, insbesondere wenn Anforderungen an Vorhersagbarkeit und frühzeitiger Planungssicherheit unterschiedlich sind und man diese Unterschiede nicht gewohnt ist. Mitunter sind letztere noch in unterschiedlichen Aspekten verschieden.

Was hier hilft, ist Kommunikation. Mitzuteilen, welche Planungssicherheitsbedürfnisse verschiedene Personen haben und wie die Arbeitsweise ist. Gemeinsam Prioritäten und Deadlines festzulegen, die diese Bedürfnisse berücksichtigen. Oder auch einfach mal zu sagen „let’s go, wir machen das jetzt endlich mal, ich helfe dabei“. Blockaden (wie etwa Telefongespräche mit fremden Menschen) zu identifizieren und anzubieten, dort zu unterstützen, ohne darüber zu urteilen.

Auch Medis helfen hier vielen, vor allem in der alltäglichen Planung besser zurechtzukommen.

Was man nicht tun sollte: Blaming, zu unterstellen „ständig Ausreden zu suchen“, gar vorzuwerfen, jemand würde seinen Neurotypen „vorschieben“, „lern das doch einfach mal“ oder dergleichen. Leider kennen die allermeisten Kinetics dieses Blaming zu Genüge. Es kommt nichts Gutes dabei raus. Wirklich nicht.

Auch haben viele die Erfahrung gemacht, dass Schwierigkeiten wie etwa die angesprochene Blockade durch Telefongespräche mit fremden Menschen, Entscheidungsparalyse etc. auf keinerlei Verständnis stoßen. Ableismus ist allgegenwärtig und eine kulturell noch immer sehr akzeptierte Form der Diskriminierung. Daher haben viele längst aufgegeben, derlei Dinge zu kommunizieren, fressen ihren Frust stattdessen in sich hinein, verzweifeln im Zweifelsfall an der Aufgabe, fühlen sich deshalb schrecklich, kriegen dafür noch eins auf den Deckel und sammeln somit weitere Treuepunkte für ihr Minderwertigkeitsgefühl. Von Seite der Kinetics ist es daher wichtig wieder zu lernen, Menschen in dieser Hinsicht vertrauen zu können und Support zu bekommen.

Auf der anderen Seite können Kinetics nämlich unglaublich viel Energie in die Orga mitbringen, wahnsinnig viel vorantreiben und Probleme schnell und kreativ lösen. Zudem sind sie quasi für Situationen geboren, wo alles drunter und drüber geht und organisatorische Brände zu löschen sind. Nicht umsonst wird Eventplanung oft als einer der Top-Jobs für Kinetics empfohlen, was oberflächlich betrachtet zunächst ein Widerspruch zu sein scheint, bei näherer Betrachtung jedoch komplett Sinn ergibt.

Fear-of-Missing-Out (FOMO) und Aufgedreht-sein

MOAR DOPAMIN! Shiny new things! Überall interessantes Zeugs! Viele tolle Menschen! Man will doch nichts verpassen! 🤩🤩🤩

FOMO kann böse sein und schnell zum Vernachlässigen von Self Care und weiterem Schlafmangel führen. Oder dazu, dass man andere Menschen dazu drängt, doch XY auch noch mitzumachen.

Insbesondere bei mehrtägigen Veranstaltungen und daraus resultierendem allgemeinen Schlafmangel kann es vorkommen, dass man regelrecht aufgedreht ist. Auch die Reaktionen des Körpers und der Psyche auf diesen Modus unterscheiden sich von Mensch zu Mensch und bei verschiedenen Neurotypen. Auf jeden Fall führt es dazu, dass Masking oft nicht mehr so intuitiv geschieht. Das wiederum führt schnell dazu, dass bspw. zusätzlich Social Cues noch weniger erkannt werden, man schneller in Personal Spaces eindringt, ohne es zu merken, in Leute reinrennt, vertieft in ein Gespräch wild gestikulierend umstehende Menschen trifft oder Ähnliches.

Habe ich gehört. Nicht, dass mir so was je passiert wäre. (/sarkasmus)

Was hilft? Awareness, dass das passieren kann. Gewöhnung. Beim x-ten Besuchen derselben (oder einer ähnlichen) Veranstaltung ist nicht mehr alles neu-und-shiny, was dem entgegenwirkt. An sich gehörem Aufregung und FOMO ja aber auch ein Stück weit dazu.

Anmerkung zu Medikation

Der Hauptunterschied zu Autismus besteht darin, dass eine „ADHS“-Diagnose Zugang zu Medikation gibt. Eine gängige Annahme ist, dass diese Medikamente die Probleme von kinetischen Menschen lösen, indem sie sie quasi neurotypischer machen – diese Auffassung ist eine direkte Konsequenz des Pathologie-Paradigmas, welches die Neurotypen selbst als das Problem ansieht, weil sie von der Neuronormativität abweichen. Gut gemeinte Sprüche wie „Nimm doch deine Medikamente!“, „Lass dir doch endlich was verschreiben!“ sind eine Folge davon.

Wahr ist, dass die Medis ein sehr gutes Hilfsmittel sein können, welches Betroffenen das Meistern vieler Alltagssituation mitunter überhaupt erst ermöglicht. Vor allem Spätdiagnostizierte berichten oft von einem Tag-Nacht-Unterschied, als hätte man nach jahrzehntelanger Kurzsichtigkeit das erste Mal eine Brille auf.

Aber: Medis sind kein Allheilmittel. Sie haben Nebenwirkungen, die mitunter sehr einschneidend sein können. Vor allem aber machen sie Kinetics nicht neurotypisch! Die Auswirkungen einiger kinetischen Traits werden abgeschwächt. Oben angesprochene Emulation einer neurotypischen Aufmerksamkeit wird erleichtert. Kinetics sind jedoch weiterhin Kinetics.

Nun gibt es aber beispielsweise einen riesigen Overlap mit Autismus. Je nach Studie erfüllen 20-50% der Kinetics die Diagnosekriterien für Autismus. Viele davon sind in der Realität natürlich in Bezug auf Autismus undiagnostiziert. Kinetische und autistische Traits stehen in diesem Fall in permanenter Wechselwirkung miteinander und balancieren sich teilweise gegenseitig sogar quasi aus. Die Medis federn einige kinetische Traits ab – die autistischen bleiben jedoch. Wo vorher mitunter sogar eine Balance war, kann diese nun kippen, was unterschiedliche Folgen haben kann. Auch führt die Kombination mitunter dazu, dass bspw. eine geringere Toleranz bezüglich Nebenwirkungen besteht.

Weitere Informationen dazu findet ihr bspw. hier:


Puh, wir sind erstmal durch. Das ist jetzt doch ausschweifender geworden, als ich gedacht hätte. Ich stelle fest, dass der andere Blickwinkel, über den ich diesen Neurotypen inzwischen betrachte, viele sehr spannende Gedanken und Implikationen hervorbringt. Wir sind gerade erst am Anfang einer neuroaffirmnativen Ära. Es gibt eine Menge Dinge aufzuarbeiten, sehr viel zu tun und unglaublich tolle Dinge zu entdecken! Shiny new things! 🤗

Was fallen euch noch für Situationen ein? Wie können diese unter einer neuroaffirmativen Linse differenziert betrachtet werden? Ich bin gespannt! 😊

><(((º> °

– Your flamingly Kinetic & Autistic neuroqueer rainbow butterfly cat Luux 🔥🦋

Ich habe keine Queerness. Ich bin queer. Ich habe kein Autismus. Ich bin autistisch. Ich habe keine „ADHS“. Ich bin kinetisch.

CN Ableismus, Diskriminierung, Konversionstherapien, Othering, Queerfeindlichkeit, Stigmatisierung

Bitte beachtet meinen Background.

„Das ist doch nicht normal!“

In kaum einem Satz verbirgt sich eine derartig große alltägliche Machtdemonstration wie in diesem. Voller Empörung wird er all denjenigen entgegengeschleudert, die auch nur ansatzweise von irgendeiner vermeintlichen Form der „Normalität“ abweichen. Mit ihnen geht stets die Implikation einher, sich dieser entweder bedingungslos zu fügen, oder gefälligst die Konsequenzen in Form von Ablehnung, Ausgrenzung, Diskriminierung oder gar Gewalt ertragen zu müssen und selbst schuld daran zu sein.

Normativität ist ein „wir“ gegen „die“.

„Wir Normalen“ gegen „die Abnormalen“.

Erstere sind die mächtigere soziale Gruppe, die natürlich die Definitionshoheit darüber hat, was als „normal“ zählt. Hinterfragt wird dieses Weltbild meist nicht. Versuche, Abweichungen als Teil der „Normalität“ zu etablieren, erfahren hingegen meist großen Widerstand und werden als Propaganda verschrien.

Die Sache mit der „Normalität“

Im Zuge der Industrialisierung und Siegeszug des Kapitalismus kam es zur Etablierung des Konzepts der „Normalität“. Die Vermessung der Welt und möglichst allem, was sich in ihr vermessen lässt. Arbeitsplätze in Fabriken wurden zur Maximierung der Effizienz normiert – wer außerhalb der Standardabweichung liegt, hatte halt Pech. Das sollte der Profitmaximierung aber nicht im Wege stehen, der Großteil der Arbeitskräfte war ja mit minimalem Aufwand abgedeckt.

Auch im Verständnis dessen, was Gesundheit eigentlich ist, erfolgte ein weitreichender Paradigmenwechsel: Gesundheit war nun nicht mehr primär eine Frage der wie-auch-immer-gearteten Balance oder Ausgewogenheit, sondern eine Frage der Normalität. Ist der Zustand nahe genug dran an der Normalität? Gut, passt, gesund! Gibt es signifikante Abweichungen davon? Krank, gestört, kaputt! Das Ziel von Behandlungen war es nun, den Zustand wieder normal zu bekommen.

(Wer an einem Deep-Dive in dieses unfassbar interessante Thema bekommen möchte, sei [1] ans Herz gelegt!)

Dieses Prinzip ermöglichte immense Fortschritte in der Medizin und ist auf sehr vieles anwendbar. Erst die Normierung ermöglichte es, überhaupt nachvollziehbare und konsistente Kriterien für viele Krankheiten, Medikation und so weiter festzulegen. Auch in Bezug auf Behinderungen gilt dies für vieles. Wer ein Bein verloren hat, den bekommt man vielleicht selbst mit heutigen Möglichkeiten nicht mehr in den „normalen“ Zustand, aber mit Prothesen eben so nahe dran, wie es eben geht.

In Bezug auf Behinderungen folgt daraus das medizinisches Modell der Behinderung: Menschen weichen signifikant von der „Normalität“ ab und sind deswegen behindert – ergo: wir behandeln wir die Menschen so, dass sie möglichst nahe an die „Normalität“ kommen, denn das fixt das Problem.

Eine Frage, die sich jedes Mal stellt, wenn jemand von „normalen Menschen“ spricht: welche denn? Die aus dem bevölkerungsreichsten Land: Indien? Die der Weißen neurotypischen cis Deutschen im hintersten ostdeutschen Kuhkaff? (Anm.: ich komme selbst aus so einem Kuhkaff). Die der Weißen neurotypischen cis Deutschen in Berlin? Männer? Frauen? Welche Generation? Die Lebensrealitäten sind doch mitunter grundverschieden. Für viele Fragestellungen ergibt es schlicht keinen Sinn, irgendeinen Mittelwert der Gesamtbevölkerung heranzuziehen, sondern man grenzt die Gruppe eben sinnvoll ein. Auch in der Medizin ist man irgendwann auf den Trichter gekommen, dass es bspw. ganz schlau wäre, Medikamente, die man Frauen verschreibt, auch an Frauen zu testen. (Nochmal ein ganz eigenes Thema…).

Was der Gipfel der Dämlichkeit ist: irgendwie ist im Zuge all dessen das maximale Mittelmaß zum Ideal geworden, das es zu erreichen gilt. Es ist zu einer Ideologie geworden. Eine Ideologie des Durchschnitts, der Normativität.

Und was hinreichend abweicht, ist ja krankhaft, nicht? Und was krankhaft ist, sollte gar nicht erst Teil der Normalität werden, wo kommen wir denn sonst hin! (/sarcasm)

Die Auswirkungen davon sehen wir auch historisch. Eines der bekanntesten Beispiele dafür dürfte die Linkshändigkeit sein. Der Versuch, die Menschen „normal“ zu machen (aka: umzuerziehen), ist die direkte Konsequenz dieser Ideologie. Die gravierenden Auswirkungen davon sind hinreichend bekannt. Nun, Linkshändigkeit ist nach jahrzehntelangem Kampf irgendwie Teil der Normalität geworden. Auch wenn die Gesellschaft noch immer ein gutes Stück entfernt ist, da echte Gleichberechtigung zu haben, aber das ist ein anderes Thema.

Über den Umgang mit Menschen, die irgendwie von den sexuellen und cisgeschlechtlichen Normen abweichen? Da will ich gar nicht erst anfangen.

„Neurodiversity light“ und der Kampf um die Sprache

Stellt euch mal vor, jemand würde über „Menschen mit Homosexualität“ schreiben. Über „Menschen mit Queerness“.

Man will ja den Menschen zuerst sehen und von deren Störung trennen. Vor etlichen Jahrzehnten wäre so ein Ansatz völlig normal gewesen, wurde Homosexualität doch lange pathologisiert.

Heute würde es berechtigerweise einen Shitstorm sondergleichen nach sich ziehen. Und dann können sich alle auf die Schultern klopfen, weil wir doch heute so reflektiert sind und das nicht mehr zulassen, dass Menschen so behandelt werden…

…um dann im nächsten Atemzug über „Menschen mit Autismus“, „Menschen mit ADHS“, „Menschen mit Dyslexie“ zu schreiben. Oder „Menschen mit einer Neurodiversität“. Eine Diversität zum Mitnehmen, bitte. Wir wollen ja Menschen mit Diversität inkludieren und so.

Neurodiversität ist fancy, Neudodiversität ist hip, so und jetzt bitte hier lang zur Konversionstherapie. Nein, das ist kein Witz, Applied Behaviorial Analysis (ABA) folgt dem gleichen Mindset wie Konversionstherapie für Homosexualität[2] – ist jedoch seit Jahrzehnten Standardtherapie für autistische Menschen und es wird inzwischen fleißig mit Begriffen wie Neurodiversität gebullshitbingo’d.

Neurotypen, also bestimmte Formen der Neurodivergenz, welche von Geburt an bestehen, größtenteils erblich sind und Vor- und Nachteile mit sich bringen, werden noch immer durchweg pathologisiert. Verdacht und Diagnosen erfolgen pathologisch aus einem ganz bestimmten, eingeengten und ignoranten neurotypischen Blickwinkel, wodurch viele Leute durch’s Raster fallen und von Therapie zu Therapie geschickt werden, ohne zu wissen, wer sie eigentlich sind.

Weiblich gelesen? „Gut, hier hast du deine Borderline-Diagnose. Gratulation, du hast eine Persönlichkeitsstörung, deine Persönlichkeit ist gestört, jetzt geh uns nicht weiter auf den Geist.“ (Hierzu gibt es bspw. ein spannendes Kapitel in [3] – die Existenzberechtigung der Borderline-Diagnose wird dort vollständig abgelehnt.)

Double Empathy Probem? Findet keine Erwähnung. – „Du hast Probleme mit Empathie, liegt an dir.“

Interessensbasierte Aufmerksamkeit und Autistic Inertia? Monotropismus? Spontanität? – „Aufmerksamkeitsdefizit! Limitierte Interessen!“

Stimming zur Selbstregulation? – „Abnorme repetitive Bewegungen! Hyperaktivität!“

Verschieden große Support Needs in unterschiedlichen Bereichen? – „Uns interessiert nur, wie sehr du nach unseren Maßstäben FUNKTIONIERST!“

Aber hey, wir sind jetzt voll neurodivers, denn wir erkennen an, dass diese Störungen auch Stärken mit sich bringen! Spontanität, Kreativität, Hyperfokus, Gerechtigkeitssi… *(ne halt, das ist schon wieder negativ, die nerven uns damit)*.

Was sind denn das für Störungen, die größtenteils genetisch sind und nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile mit sich bringen? Wo viele der „Nachteile“ bei genauerem Hinsehen mitunter gar nicht so nachteilig sind, oder nur unter bestimmten Bedingungen? Das hat doch noch nie irgendeinen Sinn ergeben?!

Die Liste lässt sich endlos fortführen. Pathologisierung dieser Neurotypen heißt:

Du weichst ab, deine Abweichung ist das Problem – wir lösen das Problem, indem wir dich normal machen.

Voila: Konversionstherapie. Oder Verständnis von „ADHS“-Medikation als „nimm das und werde neurotypischer“. Nein, so funktioniert das nicht. Glaubt mir, ich hab in meiner Jugend viele Jahre über Medis genommen. So funktioniert das nicht. Medis sind ein Hilfsmittel, sie machen einen aber nicht neurotypischer und bringen ihrerseits Vor- und Nachteile.

Das Problem an Neurodiversity light: es werden ein paar Begriffe genommen, die angestaubten Ansichten werden in etwas wohlklingendere Worthülsen entgegen deren eigentlichen Bedeutung verpackt, irgendwie zusammengewürfelt und durch die wiederholt falschen Verwendungen irgendwann ad absurdum geführt – und die dahinterstehenden Denkmuster aber nicht hinterfragt.

Reframing

Die Problematik hinter Person-first Language wird unter [4] sehr gut erklärt.

Man kann meine Person nicht „von Queerness“ trennen. Weil ich queer bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als cis Mann wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Glaubt mir, ich hab’s aufgrund des Drucks zweieinhalb Jahrzehnte probiert. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter Queerness“, ich leide unter Queerfeindlichkeit und cishetero-Normativität.

Man kann meine Person nicht „von Autismus“ trennen. Weil ich autistisch bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als allistischer Mensch wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Glaubt mir, ich hab’s aufgrund des Drucks zweieinhalb Jahrzehnte probiert.

Ich mag meine starken Interessen. Meinen Gerechtigkeitssinn. Die Kommunikation mit anderen Autis, die gegenseitige Echolalie, das gegenseitige Infodumping. Meine Fähigkeiten zur vielfältigen Mustererkennung. Meine allabendliche Gurke. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter Autismus“, ich leide unter Ableismus und Neuronormativität.

Man kann meine Person nicht „von ADHS“ trennen. Weil ich kinetisch bin. Das ist etwas, das meine ganze Persönlichkeit mitformt. Als nicht kinetischer Mensch wäre ich jemand ganz anderes. Ich will das gar nicht. Ich mag meine Spontanität, mein Inertia, meine Kreativität, die Kommunikation mit anderen kinetischen Menschen – ja, auch das gegenseitige Ins-Wort-Fallen, das man sich dann gegenseitig überhaupt nicht übel nimmt und einfach im Flow vibed. Und ich „leide“ schon gar nicht „unter ADHS“, ich leide unter Ableismus und Neuronormativität.

Kinetic Cognitive Style

Moment, kinetisch? Was ist das denn? Waren wir eben nicht noch bei ADHS?

Ja und nein. ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Fällt euch nicht auf, wie komplett kaputt der Begriff selbst ist, mit dem wir uns identifizieren? Wie die Pathologie aus jeder noch so kleinen Pore trieft? Wie der Begriff suggeriert, dass man doch neurotypisch viel besser dran wäre?

Ich hab kein „Konzentrationsdefizit“ (aka Mangel/Fehlen/“zu wenig“). Ich hab im Gegenteil so viel Konzentration, sodass ich manchmal gar nicht weiß, wohin damit, weil diese Gesellschaft verlangt, auf viele Dinge gleichzeitig jeweils moderate, dafür aber stetige Konzentration zu geben.

Ich mag meine Interessensfelder. Ich krieg die Krise bei neurotypischer Kommunikation, wo Leute ewig über banale Sachen quatschen; dann endlich mal ein interessantes Thema aufkommt, was dann direkt wieder abgecuttet wird.

Ich mag Tiefgang und Intensität bei Sachen, die mein Interesse wecken. Dass das von anderen als „gestört“ und „Defizit“ bezeichnet wird, lasse ich mir nicht mehr bieten.

In autistischen Kreisen wird schon eine ganze Weile für depathologisierte Sicht gekämpft. In „ADHS“-Bubbles nimmt das Ganze bislang nur sehr zögerlich Fahrt auf, da der Begriff selbst bereits ausschließlich zutiefst pathologisch und wertend ist. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Leider hat sich bislang kein allgemein verbreiteter Alternativbegriff etabliert.

Aus diesem Grund hat Nick Walker, Autorin des herausragenden Neuroqueer Heresies[5], eine solche Alternative vorgeschlagen: Kinetic Cognitive Style, kurz KCS. KCS beschreibt viel besser, was ich seit meiner Kindheit erlebe.

Der natürliche Zustand dieses Neurotyps beinhaltet unter anderem

 – eine interessens-/impuls-/inertia- und dringlichkeitsgetriebene Aufmerksamkeit

 – eine zentrale Rolle einnehmenden Flow und Hyperfokus

 – ein am besten in Bewegung arbeitendes Gehirn – mental und physisch, am besten alles gleichzeitig; mentale Beschleunigung und Abbremsen sind hingegen meist deutlich herausfordernder (siehe Autistic Inertia)

Mehr Infos über KCS gibt es hier: [6]

Wird sich der Begriff „KCS“ durchsetzen? Keine Ahnung. Ich identifiziere mich damit jedenfalls inzwischen deutlich mehr als mit „ADHS“. Sofern niemand mit einer viel schöneren, bahnbrechenden Begriffsidee kommt, werde ich diesen erst einmal verwenden.

(Allgemeine Anmerkung zu sprachlichen Sachen: wenn man über konkrete Menschen spricht und deren sprachliche Präferenz für ihr eigenes Erleben kennt, sollte man diese respektieren. Allerdings ist es auch wichtig, die Implikationen und Alternativen zu verstehen.)

Wege nach vorn: Neuro-affirmative Ansätze

Neuro-Affirmative Ansätze sind imho die spannendste Entwicklung im Bereich der Neurodivergenz.

Neuro-affirmativ zu sein, bedeutet konsequent aufzuhören, Neurotypen als „kaputtes Neurotypisch“ anzusehen, das Gesamtbild zu betrachten und neurodivergente Kommunikation und Kultur als genau solche zu respektieren. Nicht zu versuchen, eine Person in neurotypische Normalität zu pressen und sich stattdessen auf Selbstbestimmung zu fokussieren. Es bedeutet, Menschen dabei zu helfen, mit ihrem Neurotyp zu arbeiten und nicht gegen diesen. Und es bedeutet, die tiefgreifenden Auswirkungen allgegenwärtiger Diskriminierung, Ableismus und Ausgrenzung in ihrer vollen Bandbreite anzuerkennen.

Aktuell sprießen Ressourcen dazu nur so aus dem Boden – an dieser Stelle nochmal meine Empfehlung bezüglich [3]. Auch bspw. The Psychologist, Magazin der British Psychological Society, hat dazu bereits geschrieben[7].

Ist das Ändern der Sprache die Lösung? Wie oben geschrieben: nein. Es ist notwendiger Teil der Lösung, das Ändern der Sprache allein bringt jedoch nichts, wenn alte Denkmuster nicht hinterfragt werden. Die ersten sehen schon ihre Felle davonschwimmen und versuchen, uns „neuroaffirmatve ABA“ zu verkaufen – das ist, als würde jemand „homoaffirmative Konversionstherapie“ anpreisen.

Stellt euch vor, Menschen könnten einfach ihre Neurotypen erfahren und hätten Zugang zu passenden, neuroaffirmativen Ressourcen – und zwar schon, bevor jahrzehntelanger gesellschaftlicher Druck dazu führt, dass Traits sich in pathologischen „Symptomen“ äußern. Bevor Menschen jahrzentelang immer wieder Traumata erleiden mussten, bis sie irgendwann nicht mehr können. Bevor Ausgrenzung und Mobbing dazu führen, dass Menschen niemandem mehr vertrauen. Wie viele Burnouts, wie viele Depressionen, wie viel Einsamkeit könnten verhindert werden?

Es ist Zeit für eine Revolution. ❤️‍🔥

Quellen & Literatur

[1] Robert Chapman, Empire of Normality – Neurodiversity and Capitalism, 20.11.2023

[2] Daniel E Conine, Sarah C Campau, Abigail K Petronelli, LGBTQ+ conversion therapy and applied behavior analysis: A call to action, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34407211/, 18.08.2021fAB

[3] Davida Hartman, Tara O’Donnell-Killen, Jessica K Doyle, Dr. Maeve Kavanagh, Dr. Anna Day, Dr. Juliana Azevedo, The Adult Autism Assessment Handbook – A Neurodiversity Affirmative Approach, 21.02.2023

[4] Nick Walker, Person-first language is the language of autistiphobic bigotshttps://neuroqueer.com/person-first-language-is-the-language-of-autistiphobic-bigots/, Stand: 04.10.2024

[5] Nick Walker, Neuroqueer Heresies, 01.12.2021

[6] Stimpunks, Kinetic Cognitive Style, https://stimpunks.org/glossary/kinetic-cognitive-style/, Stand: 04.10.2024

[7] The Psychologist, What does it mean to be neurodiversity affirmative?, https://www.bps.org.uk/psychologist/what-does-it-mean-be-neurodiversity-affirmative, 02.01.2024