Über persönliche Safe Persons auf mehrtägigen Events

CN Ableismus

Mehrtägige (Kink-)Events, Festivals o.Ä. sind eine tolle Sache und gleichzeitig ein Siedetopf für Menschen unterschiedlichster Backgrounds und somit ein Minenfeld der sozialen Interaktion. Insbesondere Autist:innen (und insbesondere autistische Menschen, die sich dessen selbst noch nicht bewusst sind!) stellt das vor entsprechende Herausforderungen.

Ausgangssituation

Eine der Dynamiken, die daraus entstehen können und ein Paradebeispiel für das soziale Modell der Behinderung ist, ist folgende:

Es ist wahrscheinlich, dass jemand nach anfänglicher Anxiety endlich 1-2 Leute kennenlernt, mit denen die Person sich gut versteht und diese recht schnell als Safe Persons sieht. Zu diesen kehrt der:diejenige immer wieder zurück und möchte möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen, weil mensch froh bist, jemanden gefunden zu haben. Da Socializing oftmals hohe Barrieren für Autis hat (teils Double Empathy-Mehrheitsbedingt, teils sozialisierungs-/traumabedingt, teils umgebungsbedingt), ist die Verlockung groß, recht schnell auf 1-2 Personen „einzulocken“, die man am ersten Tag kennengelernt hat. Monotropismus verstärkt dies mitunter enorm.

Solche Safe Persons können etwas sehr schönes und gerade bei Events mit größerem Gewusel extrem hilfreiches sein.

Das Problem

Eine solche Safe Person für eine andere Person zu sein, die entsprechende Support Needs hat, bzw. froh ist, sich endlich mal Menschen mitteilen zu können und eben nicht alleine auf einer Bank sitzen zu müssen (oder als letzte Person ins Team „gewählt“ zu werden x_x), kann mitunter seinerseits ziemlich Spoons veranschlagen und Menschen unter Druck setzen. Insbesondere, wenn das noch mit Trauma Dumping einhergeht, weil mensch sich endlich mal jemandem mitteilen kann.

Das resultiert dann aus Sicht der anderen Person in ein „ja also ich finde den Menschen ja eigentlich ganz nett, will aber auch nicht, dass mensch mir die ganze Zeit hinterherläuft. Ich will mensch aber auch nicht direkt wegschicken, weil ich nicht fies sein will“, was sehr anstrengend sein kann.

In einer allistischen Welt wird idR erwartet, dass mensch so was irgendwie „zwischen den Zeilen liest“ oder irgendwie „merkt“. (An dieser Stelle sei auf die Baumkletterergesellschaft verwiesen.)

Da allistische Social Cues für autistische Menschen so eine Sache sind, bekommen Autist:innen das mitunter aber gerade eben nicht mit und gehen dann Personen auf die Nerven, mit denen sie eigentlich gut klarkommen, ohne dass sie das wollen. Oft endet das darin, dass Menschen dann mitunter versuchen, möglichst unauffällig auszuweichen, heimlich hoffen, der Person gerade mal für 1-2 Stunden nicht über den Weg zu laufen oÄ. Falls überhaupt, erfährt die betroffene Person das dann oft auf recht unschöne Art und Weise, was dann Selbstbewusstsein noch weiter untergräbt.

Lösungsstrategien

Ich habe diese Dynamik auf eigentlich allen Seiten bereits erlebt (wenn auch in unterschiedlichen Intensitäten) – als Social-Cues-nicht-verstehende-Person, als Safe Person für jemand anderes, als Person in einer Gruppe mit einer anderen Person, die irgendwie von jemandem als Safe Person auserkoren wurde. Es gibt leider keine magische Wunderlösung, die man einfach anwenden kann, um das zu vermeiden. Ein paar Gedanken dazu hätte ich dennoch. Das Wichtigste ist eigentlich, diese Dynamik auf dem Schirm zu haben.

Als (unfreiwillige) Safe Person:

  • „Aber der Mensch muss das doch eigentlich mal merken!“ – Nein. Merkt mensch mitunter eben nicht. Vor allem nicht nach mehreren Tagen Event, wo Maskingenergie kaum noch vorhanden ist und allistische Social Cues noch häufiger übersehen werden als sonst.
  • Bitte blamed andere nicht dafür, das „nicht zu merken“, auch nicht hinter deren Rücken. Das passiert dann leider häufig, wird die Social Anxiety für die Person aber nur noch weiter vergrößern. Dazu kommt noch, dass betroffene Menschen bereits sehr viel Erfahrung mit Othering machen mussten. Das ist ein elendiger Teufelskreis.
  • Es ist absolut ok und sinnvoll, Grenzen zu setzen und zu kommunizieren, dass man für bestimmte Dinge bzw. deren Intensität keine Spoons hat. Das ist imho deutlich besser und fairer, als mit der Situation unglücklich zu sein oder hintenrum über betroffene Personen zu lästern.
  • Es muss einerseits klar kommuniziert werden – „zwischen den Zeilen“ funktioniert nicht! – andererseits ist dennoch etwas Fingerspitzengefühl angebracht. Das kann in der Situation scary sein, wenn man nicht „zu hart“ sein oder missverstanden werden will – auf der anderen Seite mag ein „du gehst mir auf den Sack“ zwar direkt und unmissverständlich sein, ist aber einfach nur wahnsinnig unempathisch.
  • Bedenkt, dass die andere Person die andere Person dieses Eierschalenlauf-Problem bei sehr vielen sozialen Interaktionen hat, weil sie meist sehr oft im Leben angeeckt ist und missverstanden wurde (deswegen kommt mensch ja auch erst in die Situation).
  • Beachtet dennoch, dass einige autistische Menschen massive Social Anxiety entwickelt haben, weil ihnen permanent gesagt wurde, dass sie „zu viel“ sind. Wenn diese sich euch öffnen, tun sie das nicht, weil sie euch auf die Nerven gehen wollen, sondern weil sie euch eben als safe ansehen. Es ist nicht immer einfach, da eine Balance zu finden.
  • Leider ist das mit dem direkten Mitteilen umso schwieriger, wenn eins selbst zu den People Pleasern gehört. Hier können gegebenenfalls Personen im Umfeld helfen, die diese Situation mitbekommen.
  • Ggf. können in solchen Situationen beispielsweise Techniken der Gewaltfreien Kommunikation sehr hilfreich sein.

Als Person auf der anderen Seite

  • Versucht, sofern es euch möglich ist, nicht in obige Falle zu tappen, nach dem ersten Tag komplett auf 1-2 Leute „einzulocken“. Ja, das bedeutet leider Socializing, I know. Auch da gibt es kein Wundermittel und das Thema ist eigene Writings wert.
  • Bitte vermeidet permanentes unsolicited Traumadumping. Es kann sehr befreiend sein, endlich mit einer Person reden zu können. Über mehrere Tage hinweg sind bestimmte Themen aber für die andere Seite wirklich sehr anstrengend, vor allem wenn diese mit starken negativen Emotionen verknüpft sind. Das kann unglaublich schnell die eigenen Batterien leersaugen, die eins eigentlich auf dem Event selbst aufladen wollte. Das heißt nicht, dass ihr verschlossen bleiben solltet. Die Dosis macht das Gift.
  • Je nach Event kann es sich beispielsweise stattdessen anbieten, gezielt einen Gesprächskreis mit Menschen zu starten, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Erfahrungsgemäß sind in queeren Kink-Bubbles meist definitiv genug Interessent:innen da! Und ganz nebenbei lernt ihr da neue Personen kennen.
  • Wie oben beschrieben, kann es gut sein, dass euch immer wieder gesagt wurde, dass ihr „zu viel“ seid und ihr deswegen Angst habt, überhaupt an Personen heranzutreten oder euch diesen zu öffnen. Das ist keine gute Lösung. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Auch hier gilt: Die Dosis macht das Gift.
  • Im Zweifelsfall: sprecht es an. Letztlich ist das dann auch nur ein Konsensgespräch. Ihr werdet manchmal positiv überrascht sein!
  • Leider sind die Hürden in unserem Gesundheitssystem mitunter sehr hoch, für autistische Menschen (ob sie selbst wissen, dass sie autistisch sind oder nicht…) hat das ohnehin schon cursed System nochmal ganz eigene Barrieren. Dennoch ist ein Kink-Event vielleicht nicht der richtige Ort, um große Traumata erstmalig anzugehen und entsprechende Grundlagenaufarbeitung zu leisten. Wenn ihr den Verdacht hegt, eventuell autistisch und/oder kinetisch („ADHS“) zu sein, lohnt es sich extrem, sich mit entsprechenden Ressourcen auseinanderzusetzen, da diese Neurotypen mitunter ganz andere Herangehensweisen benötigen und das Wissen von Menschen im Gesundheitsweisen in dieser Hinsicht oft gnadenlos überschätzt wird. Vertraut dabei nicht den ersten Google-Suchergebnissen, sondern konsultiert Ressourcen von Betroffenen für Betroffene.