Von Baumkletterern und Fischen (oder: warum ein konsequentes Neurodiversitäts-Paradigma die Probleme neurodivergenter Menschen nicht verharmlost)

If you judge a fish by its ability to climb a tree, it will live its whole life believing that it is stupid

Derlei Zitate sind zwar auf Social Media-Bildchen sehr populär und werden oft geteilt (zumeist in einer Kombination, die deren Ursprung fälschlicherweise Albert Einstein oder anderen berühmten Menschen der Vergangenheit zuweist), die Gesellschaft selbst konfrontiert die Menschen aber leider zumeist mit einer vollkommen anderen Realität.

Dennoch erkenne ich in diesem Satz eine Schönheit, welche mit mir in einer Art resoniert, die mich immerhin dazu inspiriert, eine kleine Geschichte zu schreiben.

Eine Geschichte über Baumkletterer und Fische.

CN: Ableismus

Bitte beachtet meinen Background.


Die Gesellschaft der Baumkletterer

Die Geschichte spielt in einer Welt, die von Baumkletterern bevölkert wird.
Es gibt große Baumkletterer, kleine Baumkletterer, dünne Baumkletterer, dicke Baumkletterer, flinke Klettermeister, langsamere Kletterer, Kletterer mit kaputten Knochen, gerade erst Kletternlernende und so weiter und so fort.

Jene Baumkletterer – man könnte es fast erahnen – errichten ihre Städte auf Baumkronen. Nun müssen Baumkletterer ab und zu von den Bäumen herunter oder zwischen den Baum wechseln – schließlich kann man nicht die ganze Zeit auf demselben Baum hocken. Auf Bäume hinauf oder zwischen den Bäumen hin- und herzuklettern ist demnach in der Baumkletterergesellschaft vollkommen alltäglich und normal. Die sozialen Gepflogenheiten, Normen und Umgangsformen sind aus unserer Sicht am ehesten mit denen von Rudeln vergleichbar. Jedes Baumklettererkind weiß das und lernt diesen Umgang miteinander intuitiv.

Nun besteht die Welt zwar hauptsächlich, aber nicht ausschließlich aus Baumkletterern. Es gibt noch andere Wesen, zum Beispiel die Fische. Gut, eigentlich ist es eher ein breites Spektrum aus Amphibien-artigen Wesen bis hin zu reinen Fischen. Ein fließender Übergang. Aber der Einfachheit halber werden sie zumeist Fische genannt.

Fischheitsstörung

Woran erkennt man einen Fisch?

Nun, es ist gar nicht so einfach, wie es sich zunächst anhört. Man sieht es den Fischen nämlich gar nicht äußerlich an. Es ist auch noch gar nicht so lange her, dass man überhaupt erst erkannt hat, dass es Fische gibt. Man machte diese Entdeckung, indem diejenigen untersucht wurden, die sich sehr eigenartig und ungeschickt beim Klettern anstellten. Seitdem weiß man, dass es Klettergestörte gibt, die sich bestimmte Merkmale teilen. Diese Merkmale haben die Baumkletterer unter Fischheitsstörung zusammengefasst.

Kletterer mit Fischheitsstörung haben es nicht leicht in einer Welt, in der die Städte auf Baumkronen errichtet werden und Klettern alltäglich ist. Immerhin gibt für diese Störung inzwischen einige Nachteilsausgleiche, beispielsweise wird Betroffenen gnädigerweise mehr Zeit beim Bäumewechseln eingeräumt. Notwendig hierfür ist jedoch zunächst eine fachliche Fischheitsstörungsdiagnose, bei der diese Schwierigkeiten anhand sachlicher, von führenden Baumklettererärzten erstellten Kriterien, festgestellt werden.

Diese Kriterien umfassen unter anderem:

  • Probleme beim Baumklettern, bspw. auffällig ungeschicktes Kletterverhalten, sehr langsames Klettern
  • erhöhtes Verletzungsrisiko beim Klettern (Anm.: eine Versicherung abzuschließen ist mit Fischheitsdiagnose entsprechend schwieriger!)
  • übermäßiges Interesse an Wasser (hierfür werden mitunter wichtigere Dinge vernachlässigt)
  • soziale Probleme und Auffälligkeiten, Stören des Rudelverhaltens
  • Probleme beim Erlernen der Rudeldynamiken im Kindesalter
  • fehlende Rudelintuition

In den letzten Jahren hat sich das Verständnis für die Fischheitsstörung weiterentwickelt. Langsam kommen die Baumklettererärzte dahinter, dass es nicht nur reine Fische gibt, sondern – wie eingangs erwähnt – ein breites Spektrum von Baumkletterer-Fisch-Hybriden, Amphibien, reinen Fischen und so weiter.

Sehr viele davon wissen ein Leben lang nicht, dass sie Fische sind.

Meist sind es solche, die halbwegs kletterfähig sind. Sie glauben, sie sind einfach ein wenig holprige und ungeschickte Baumkletterer. Oft sind sie als einzige im Rudel sehr erschöpft von der Kletterei. Auch werden sie oft ausgegrenzt, da sie sich zwar bemühen, das Rudelverhalten zu verstehen, aber auf ihre Mitkletterer wirken sie dennoch unterbewusst… irgendwie fishy.

Dass sie Fische sind, erfahren sie häufig erst, nachdem sie bei einem Kletterversuch durch Unachtsamkeit im chronisch erschöpften Zustand einen Unfall erlitten und mehrere Monate arbeitsunfähig waren. Oder ihre Kinder bekommen die Diagnose Fischheitsstörung, sie denken sich „meine Kinder sind doch ganz normal, die sind doch genau wie i… oh. Oh.“

Der Kampf um Anerkennung

Einige Fische fordern die Baumkletterer vermehrt dazu auf, sie als Fische anzuerkennen und die Fischheitsstörung nicht mehr als Störung zu bezeichnen.

Sie haben erkannt, dass sie sich im Wasser hervorragend fortbewegen können und – wenn mehrere Fische zusammenkommen – ein intuitives Schwarmverständnis besitzen. Sie haben erkannt, dass, würden die Städte nicht auf Baumkronen erbaut sein, ihnen vieles einfacher fallen und ihr Schwarmwissen einen massiven Beitrag zur Gesellschaft leisten könnte. Sie haben erkannt, dass sie kein prinzipielles Kletterproblem haben – auch noch so steile Wasserfälle stellen keinerlei Problem für sie dar!

Auch Fische können kaputte Flossen haben – dann fällt es ihnen zusätzlich dazu noch schwerer, sich im Wasser fortzubewegen. Von Kletterversuchen ganz zu schweigen. Viele verletzen sich irgendwann beim Versuch, die Baumkrone zu erklimmen oder sind chronisch erschöpft von der ganzen Kletterei, für die sie einfach nicht gemacht sind.

Und es gibt große Fische, kleine Fische, langsame Fische, schnelle Fische, bunte Fische, einfarbige Fische, glitzernde Fische, leuchtende Fische – alle mit eigenen Herausforderungen im Leben.

Kennst du einen Fisch, kennst du einen Fisch.

Sie haben erkannt, dass sie keine Kletterer mit Fischheitsstörung, sondern Fische sind. Würde man etwa von den Baumkronen Wasserfälle errichten, könnten vielleicht nicht alle, aber sehr viele Fische viel leichter…

Hahahaha, nope. So läuft das nicht.

Ignoranz

Viele Baumkletterer sind dagegen. Sie verstehen nicht, warum sie Zeit, Mühe und Ressourcen in die Errichtung von Wasserfällen, Wasserstraßen oder Teichen stecken sollten. Immerhin gibt es auch langsame Baumkletterer. Jeder hat mal einen schlechten Tag und verletzt sich beim Klettern. Und wenn an sich nur genug anstrengt, kann man seine Kletterfertigkeiten verbessern! Stattdessen wird Fischheit oft als Ausrede benutzt! Und Fische sind ja nur eine kleine Minderheit! Außerdem behauptet ja heutzutage jede:r dritte, ein Fisch zu sein! Ein regelrechter Fischheitstrend!

Einige behaupten gar, es gäbe keine Fische oder Fischheitsstörung. Man müsse nur endlich wieder strenger beim Klettern sein. So wie früher. Früher, in der glorreichen Vergangenheit! Früher hat es schließlich auch keine Fische gegeben!

Auch unter denen, die nicht leugnen, dass es Fische gibt, stehen viele den Anerkennungsbewegungen sehr skeptisch gegenüber, darunter vor allem auch Angehörige von Fischen, aber auch einige Fische selbst.

Fischheit soll keine Störung sein?
Damit spricht man doch Betroffenen ihre Kletterprobleme ab!!!!

Man soll sie als Fische bezeichnen und nicht als Kletterer mit Fischheitsstörung?
Aber ein Wesen wird doch nicht durch seine Fischheitsstörung definiert, das muss man doch sprachlich klar machen und vom Individuum trennen!!!! (Diese Fischheit hat mein Kind weggenommen und es zu etwas anderem gemacht!! pls macht mein Kind wieder normal und holt mein wahres Kind unter dieser Fischheit hervor!!!)

Fische selbst kämpfen dafür?
Wie können sie es wagen??!! Das sind doch nur Amphibien-Fisch-Mischwesen, die an Land gehen können und wunderbar im Leben zurechtkommen!! Die sind gar nicht Fisch genug, um für die echten Fische sprechen zu dürfen!! (Aber ich als nichtbetroffene:r Angehörige:r eines Baumkletterers mit echter Fishheit bin es selbstverständlich!!)

Fische realisieren selbst, dass sie Fische sind, nachdem sie sich ausführlich zu Fischen informiert und mit vielen anderen Fischen in Kontakt getreten sind?
NEINEINEIN, man muss eine richtige Fischheitsdiagnose von vertrauenswürdigen Baumklettererexpert:innen einholen! Sonst nimmt man den wahren Fischen die Fischheit weg!! Schau, Expert:innen sind so wichtig, dass sie sich auf den Spitzen gewaltiger, pompöser und extrahoher Baumkronen befinden! Aber es sollte doch machbar sein, da hochzuklettern, wenn es euch wichtig ist, oder?? Sonst seid ihr offensichtlich keine wahren Fische!

Was es heißt, ein Fisch zu sein

Ein Fisch zu sein, schafft viele Alltagsprobleme, die Baumkletterer nicht haben. Nun haben sie es aber nicht schwer, weil sie inherent „kaputt“ sind, sondern weil es sich eben um Fische handelt. Es sind einfach Fische, die nicht für das Bäumeklettern im Rudel gemacht sind, sondern für das Schwimmen im Schwarm. Im Wasser entfalten sie ihr Potential.

Sie haben keine Krankheit. Ein Fisch zu sein ist nichts, das man „heilen“ oder umerziehen könnte. Aber in dieser Gesellschaft sind alle Fische behindert.

Würde die Gesellschaft hauptsächlich aus Fischen bestehen, hätten diese ihre Städte auf dem Wasser errichtet und man würde sich wundern, warum die Baumkletterer eine Schwimmstörung haben und mitunter kaum ihr Seepferdchen bestehen.

Nun, einige Fische sind so stark auf das Wasser angewiesen, dass sie dieses überhaupt nicht selbstständig verlassen können. Selbst auf der Wasseroberfläche errichtete Städte sind für sie ohne weitreichende Unterstützung unerreichbar. Aber es wäre auch für sie und ihr Umfeld mitunter deutlich einfacher, als immerzu die hohen Baumkronen erklimmen zu müssen.

Fischsein selbst ist in den allermeisten Fällen keine inherente Störung, aber in dieser Gesellschaft sind alle Fische behindert.

Vielleicht erkennen das irgendwann auch die Baumkletterer…


Was will uns Luux damit sagen?

Dey will uns zum Nachdenken anregen!

Neurodiversität spricht niemandem die Probleme ab, die damit einhergehen, neurodivergent zu sein. Man setzt sich lediglich dafür ein, dass Fische nicht einfach nur anhand ihrer Fähigkeit, auf Bäume zu klettern als krankhaft oder gestört bezeichnet werden.

Dennoch sind die Neuromehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft nunmal so, wie sie sind, d.h. neurodivergente Fische müssen irgendwie im Hier und Jetzt in einer überwiegend aus neurotypischen Baumkletterern bestehenden Gesellschaft zurechtkommen. Und diese errichtet ihre Städte nunmal auf Baumkronen und interagiert meist in Rudeln.

Das herauszustellen leugnet nicht den Fakt, dass Fische es schwer haben, auf Bäume zu klettern. Das nicht herauszustellen, leugnet jedoch die Rolle der neurotypischen Baumkletterer und entzieht ihnen die Verantwortung, diese Dynamiken zu reflektieren.
(Weil Fis… äh Baumkletterer mit Fischheitsstörung einfach nur irgendwie kaputte Baumkletter sind, nicht wahr?)

Für einige Fische gibt es Hilfsmittel – für manche davon ist es jedoch aus verschiedenen Gründen notwendig, möglichst sicher festzustellen, dass es sich auch wirklich um Fische handelt. Beispielsweise auf Fische abgestimmte Medikamente, Nachteilsausgleiche, Behindertenausweise. Außerdem wissen viele Fische gar nicht, dass sie Fische sind. Auch hierfür benötigt es professionelle Therapeut:innen, die den Fischen erst einmal helfen zu erkennen, woher ihre Kletterschwierigkeiten kommen.

Bei vielen Formen des Barriereabbaus profitieren alle – Fische wie Nicht-Fische. Ein morscher Baum ist immerhin auch für Baumkletterer gefährlich. Und oft sind es die Fische, die das als erstes bemerken – vergleichbar mit dem bekannten Kanarienvogel in der Kohlemine. Hört ihnen endlich mal zu.

Leseempfehlung:
Throw Away the Master’s Tools – Liberating ourselves from the Pathology Paradigm von Dr. Nick Walker, https://neuroqueer.com/throw-away-the-masters-tools/

Autism and the Pathology Paradigm von Dr. Nick Walker, https://neuroqueer.com/autism-and-the-pathology-paradigm/

Kinetic Cognitive Style von Stimpunks, https://stimpunks.org/2021/08/27/kinetic-cognitive-style/

Monotropism, https://monotropism.org/

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